Dass das Bildungssystem aufgrund der digitalen Transformation einem fundamentalen Wandel unterliegt, ist eine weitgehend verbreitete Erkenntnis. Allerdings ist die damit einhergehende Diskussion vor allem darauf fokussiert, wie die Lern- und Aufgabenkultur unter den Bedingungen der Digitalisierung zu gestalten seien. Die Prüfungskultur dagegen wurde in den vergangenen Jahren oft nur am Rande und nachgeordnet mitgedacht, und das, obwohl gerade der digitale Wandel deren Neugestaltung dringend erforderlich macht (vgl. Albrecht 2021).

Strenge Reglementierungen verhinderten bisher Veränderungen

Die Rahmenbedingungen für eine solche Reform waren bislang jedoch ungünstig, da für Schule und Unterricht Vorschriften gelten, die häufig dem Geist des vergangenen Jahrtausends entstammen und heute reichlich obsolet wirken. Lehrer:innen bringt dies in ein Dilemma. Denn diejenigen, die ihren Unterricht zeitgemäß gestalten, moderne Impulse setzen und alte Strukturen aufbrechen wollen, stoßen spätestens in der Prüfungsphase auf die juristische Phalanx der traditionellen Prüfungskultur:

So schreiben Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse in der Regel vor, dass Schulaufgaben, Klausuren und andere Tests mit dem Stift auf Papier geschrieben werden müssen, analoge und digitale Hilfsmittel nicht oder nur sehr reglementiert eingesetzt werden dürfen, Kommunikation und Zusammenarbeit mit Mitschüler:innen untersagt sind und als Betrug geahndet werden und dass alle Schüler:innen unabhängig von individuellen Begabungen, Hintergründen und Interessen die gleichen Aufgaben in der gleichen, meist eng begrenzten Zeit unter den gleichen Bedingungen zu absolvieren haben. Alternative, räumlich und zeitlich entgrenzte und kooperative, digital ausgerichtete Prüfungsformate stellen die große Ausnahme dar.

Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung, die unser Schulsystem bzw. unsere Gesellschaft Ziffernnoten und Zertifikaten wie Zeugnissen zuschreibt, stellen sich Lehrer:innen berechtigterweise die Frage, wie viel Zeit und Mühen sie sich erlauben können, in die Etablierung einer zeitgemäßen Lern- und Aufgabenkultur zu stecken, wenn die Anforderungen in Prüfungen diesen so fundamental entgegenstehen.

Doch es besteht Grund zur Hoffnung, denn die im Dezember 2021 veröffentlichte Ergänzung zur Strategie der Kultusministerkonferenz ‚Bildung in der digitalen Welt’ könnte diesbezüglich zum ‚Gamechanger‘ werden. Ausgehend von einer „sich verändernden Lern- und Arbeitskultur”, einer „sich weiterentwickelnden Aufgabenkultur” und aufgrund „gesellschaftlicher, pädagogisch-didaktischer und fachlicher Veränderungen” (KMK 2021, S. 13) betont die KMK die Bedeutung insbesondere der sog. 21st Century Skills „Kreativität und Innovation“, „Kritisches Denken und Problemlösen“ und „Kommunikation und Kollaboration“ und auch die Bedeutung metakognitiver und reflexiver Kompetenzen sowie die des Einsatzes digitaler Medien in schulischen Prüfungsformaten, die sich auch über Fächergrenzen hinweg und über größere zeitliche Spielräume erstrecken können.

Erfolgreiche Transformation hat Gelingensbedingungen

Die Transformationsaufgaben, die vor diesem Hintergrund auf die Kultusministerien und Schulen zukommen, sind nicht zu unterschätzen: Denn die Entwicklung und Etablierung einer lernförderlichen Lern-, Aufgaben- und Prüfungskultur unter den Bedingungen der Digitalität bedürfen nicht nur engagierter und innovativer Lehrpersonen, sondern unbedingt auch der Bereitstellung von angemessenen räumlichen, technischen, personellen und die Lehrer:innen zeitlich entlastenden Ressourcen.

Gleichzeitig erfordert es von den Lehrpersonen, grundlegende Überzeugungen zum eigenen Wissens- und Leistungsbegriff, die lange Zeit mehr oder weniger unhinterfragt als Common Sense galten und die eigene Unterrichtserfahrung nachhaltig geprägt haben, selbstkritisch zu überdenken. Denn in einer Zeit, in der Daten und Informationen quasi überall und zu jedem Zeitpunkt im Internet zur Verfügung stehen, verliert die weit verbreitete Prüfungspraxis einer isolierten Reproduktion auswendig gelernten Wissens an Bedeutung. Wichtiger als eine mechanische Wissensakkumulation ist, strategisch und kritisch mit analogen und digitalen Medien nach den erforderlichen Daten und Informationen recherchieren, Wissensbestände problembezogen anwenden und auf unbekannte Kontexte transferieren, den Wahrheitsgehalt analoger und digitaler Quellen verifizieren und deren Intentionalität sowie deren Wirk- und Verbreitungsmechanismen erkennen und reflektieren zu können.

Auswirkungen der Digitalisierung auf fachliche Kompetenzen und Inhalte

Allerdings unterliegen nicht nur fachübergreifende Kompetenzen den Auswirkungen des digitalen Wandels, sondern auch fachspezifische Kompetenzen und ihre Gegenstände sind dadurch betroffen: Die Fremdsprachenfächer müssen z. B. diskutieren, welchen Einfluss maschinelle Übersetzungsdienste wie Google Translate oder DeepL auf die Anforderungen an mündliche und schriftliche, produktive und rezeptive Fertigkeiten haben; im Fach Deutsch muss z. B. diskutiert werden, welchen Stellenwert das handschriftliche Verfassen monomedialer Texte angesichts der vorherrschenden Multimodalität hat; die Naturwissenschaften müssen reflektieren, in welchem Verhältnis fachbezogene Denkweisen und Untersuchungsmethoden zur künstlichen Intelligenz und Big Data stehen; der Mathematikunterricht muss sich damit auseinandersetzen, ob z. B. Fragen der Algorithmizität – als grundlegende Dimension der Kultur der Digitalität – ohne den Einsatz von Computern und Netzwerken überhaupt noch sinnvoll thematisiert werden können. Neben die Förderung fachübergreifender digitaler Kompetenzen (vgl. KMK 2017) treten also digitale Kompetenzen, die fachspezifisch, und fachliche Kompetenzen, die digital erworben werden müssen und die selbst dem digitalen Wandel unterliegen (vgl. Frederking, Krommer & Maiwald 2018, S. 116).

Dies bedeutet in der Konsequenz, dass Lernende ab der Primarstufe auch in Prüfungssituationen die Möglichkeit bekommen müssen, altersangemessen fachliche Kompetenzen digital und digitale Kompetenzen fachspezifisch unter Beweis zu stellen, weshalb digitale Medien sowohl rezeptiv als auch produktiv in Form multimodaler Produkte und Lernergebnisse selbstverständlicher Teil der Prüfungsformate werden müssen, ohne dass dabei der Zugang zu Daten und Informationen künstlich beschränkt wird.

Der Wandel des Leistungsbegriffs

Dass zuletzt die „4K“ in den Empfehlungen der KMK eine zentrale Rolle spielen, ist in einer Zeit, in der Lernende aufgrund der Schnelligkeit der technologischen Entwicklungen mit Herausforderungen konfrontiert werden, die sich heute nur in Ansätzen abzeichnen und deren Auswirkungen schwer abzuschätzen sind, und in der immer mehr Aufgaben von Computern erledigt werden, folgerichtig und konsequent. Gleichzeitig gehört dies aber auch zu den größeren Überraschungen: Denn bislang hat die Auffassung, dass Leistung eigenständig erbracht werden müsste und könnte, kooperative Prüfungsformate weitgehend erfolgreich verhindert. Dem zugrunde liegt ein Leistungsbegriff, der Leistung als zielgerichtete Aktivität, Tätigkeit oder Verhalten einer Person beschreibt und das Moment der Bewertung als konstitutiv erachtet (vgl. Nerowski 2018, S. 239).

Diese Idee von Leistung als “Ausdruck einer individuellen Urheberschaft” (Ricken 2018, S. 47) hat sich als Mythos erwiesen, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung der Massengesellschaft gebildet und die ehemals soziale Konnotation von Leistung („Gesellschaft leisten“) verdrängt hat (vgl. Verheyen 2012; 2018). Doch Lernerfolge lassen sich nicht isoliert auf ein Individuum zurückführen, da die Leistung jedes Menschen auf sozialen Parametern grundiert und immer in sozialen Kontexten erbracht wird. Menschen lernen nicht alleine, sondern von und mit anderen. Insbesondere in der Kultur der Digitalität, die durch globale Vernetzung, Referentialität und Gemeinschaftlichkeit geprägt ist (vgl. Stalder 2017) und in der der Einsatz digitaler Medien geradezu zu den „4K“ auffordert, ist eine Verschiebung der Priorität des Individuellen hin zu einer Priorität des Sozialen notwendig.

Formative Prüfungsformate in kooperativen Settings

Es bedarf der Etablierung von kollaborativen und kommunikativen Prüfungsformaten, bei denen die Lehrenden nicht gezwungen sind, individuelle Leistungen aus dem Ergebnis herausrechnen zu müssen, „obwohl die relevanten Arbeits- und Lernschritte in einem Gruppensetting erfolgt sind“ (Wampfler 2020). Schulaufgaben, Klausuren und Tests sind dafür sicher nicht das Format, das sich aufdrängt (wenngleich auch hierfür bereits innovative Beispiele vorliegen; vgl. https://community.pruefungskultur.de/). Naheliegender sind portfolio- und projektbasierte Prüfungsformate, in denen Lernen und Leisten nicht länger künstlich getrennt und eine einseitige, summative Bewertungspraxis überwunden wird, indem vor allem der Lernprozess mehrdimensional und zeitextensiv in den Blick genommen wird. Lehrende müssen ihre Schüler:innen dabei formativ begleiten und zusammen mit ihnen Lernfortschritte und -defizite reflektieren und Hinweise geben, die die Lernenden unmittelbar und vorwärtsgerichtet für den weiteren Lernprozess fruchtbar machen können, die sie also in ihrer Selbsteinschätzungs- und Handlungskompetenz fördern. Auf diese Weise werden Schüler:innen aktiv in den Beurteilungsprozess integriert und befähigt, über den eigenen Lernprozess und dessen zugrundeliegenden Kriterien nachzudenken und Feedback von Lehrpersonen und Peers aktiv einzufordern, um so schließlich Selbstwirksamkeit erfahren und Beurteilungsprozesse als sinnstiftend und lernrelevant erleben zu können (vgl. Wampfler/Albrecht, 2022).

Nächste Schritte müssen folgen

Letztlich ist das zentrale Ziel einer zeitgemäßen Prüfungskultur sicherzustellen, dass Lernende in der Lage sind, aktuellen und zukünftigen Herausforderungen sowohl im Sinne ihrer individuellen persönlichen Entwicklung als auch im gesamtgesellschaftlichen Sinne kompetent und verantwortungsvoll zu begegnen. Die jüngsten Empfehlungen der KMK sind hier nur ein erster, positiv-disruptiver Schritt. Den Weg weitergehen müssen nun die Schulaufsichtsbehörden, Schulämter und Schulleitungen, indem sie die rechtlichen Weichen stellen und Unterrichtsbedingungen schaffen, die den Lehrer:innen die dringend notwendigen pädagogischen, didaktischen, technischen, räumlichen und auch zeitlichen Ressourcen zur Verfügung stellen, um aktiv an der digitalen Transformation einer zeitgemäßen Lern-, Aufgaben- und Prüfungskultur mitwirken zu können, in der sich die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen, aber auch die individuellen, personalen Implikationen der Kultur der Digitalität widerspiegeln.

 

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