In der Corona-Pandemie ist der Umbau des deutschen Schulsystems hin zu einem inklusiven System gefühlt kein Thema mehr gewesen – nur wenig wurde öffentlich darüber diskutierte, wie und wo Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen. In einer breit angelegten Elternumfrage hat sich zwar gezeigt, dass sich die Sichtweise auf das gemeinsame (inklusive) Lernen grundsätzlich nicht verändert hat, aber dass sich insbesondere Eltern von inklusiv beschulten Kindern großen Herausforderungen gegenübergestellt sahen. Diese und weitere Fragen rund um das gemeinsame Lernen scheinen in der Öffentlichkeit gleichwohl kaum Sichtbarkeit zu erhalten. Verliert das Thema Inklusion an Relevanz? Das kann eigentlich nicht sein, denn Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem zu entwickeln, in dessen Rahmen sichergestellt wird, dass „…Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen ausgeschlossen werden (…)“. (Artikel 24 UN-BRK)

Klaus Klemm hat sich vor diesem Hintergrund die aktuellen Daten der Kultusministerkonferenz zum Ausbau des deutschen Regelschulsystems angesehen und kommt anhand eines Vergleichs der Daten von 2008/09 und 2020/21 zu folgenden Befunden:

Aktuell werden bundesweit mehr Diagnosen ausgestellt als vor 12 Jahren

Im Schuljahr 2020/21 besuchten insgesamt 7.334.983 Schülerinnen und Schüler die Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. 10 in einer allgemeinbildenden Schule (gemeint sind damit allgemeine Schulen und Förderschulen). Bei 567.908 dieser Schülerinnen und Schüler wurde ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert – damit lag die deutschlandweite Förderquote bei gut 7,7 Prozent. Im Vergleich zum Schuljahr 2008/09 ist dies ein Anstieg von fast zwei Prozentpunkten. Anders formuliert: Über die vergangenen Jahre wurde bei immer mehr Kinder und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Bei diesen Entwicklungen finden sich beachtliche Länderunterschiede: So gingen die Förderquoten in Ländern, die 2008/09 noch über dem Durchschnitt lagen (Mecklenburg-Vorpommern: 11,4 und Thüringen: 9,0 Prozent) deutlich zurück, während sie in Ländern wie Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen um 2,0 und mehr Prozentpunkte anstiegen.

Wie wir aus früheren Analysen wissen, zeigt sich der bundesdurchschnittliche Anstieg seit Jahren. Er ist begleitet von einer Verschiebung der Verteilung auf die verschiedenen Förderschwerpunkte. So sind im Schuljahr 2020/21 mit 40 Prozent der größte Anteil aller Diagnosen dem Förderschwerpunkt ‚Lernen‘ zuzurechnen, etwa 18 Prozent dem Schwerpunkt ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ sowie knapp 18 Prozent dem Schwerpunkt ‚Geistige Entwicklung‘. Die Anteile der weiteren Schwerpunkte liegen jeweils zwischen 2 und 10 Prozent der Diagnosen. Im Vergleich zu der Verteilung 12 Jahre zuvor im Schuljahr 2008/09 hat der Anteil des Schwerpunktes ‚Lernen‘ um knapp fünf Prozentpunkte (deutlich) abgenommen, der des Förderschwerpunktes ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ indes ist um gut sechs Prozentpunkte – also in einem vergleichbaren Umfang – angestiegen.

Die Exklusionsquote hat sich in den vergangenen 12 Jahren nur wenig verändert

Im Schuljahr 2008/09 wurden in Deutschland insgesamt 4,8 Prozent aller Kinder und Jugendlichen der Schulstufen 1 bis 10 in Förderschulen unterrichtet. 2020/21 beträgt der entsprechende Anteil rund 4,3 Prozent. Anders formuliert: Mit Blick auf diesen schwachen Rückgang der Exklusionsquote um 0,5 Prozentpunkte kann festgestellt werden, dass Deutschland der Zielsetzung der UN-BRK,  „Kinder mit Behinderungen, [die, Erg. NHB] nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen“ auszuschließen, kaum nähergekommen ist. Der nur geringe Rückgang der Exklusion hat gleichwohl dazu beigetragen, dass in den Schuljahren von 2008/09 bis 2020/21 deutschlandweit in den Förderschulen die Zahl der Schülerinnen und Schüler gesunken ist . Dieser Rückgang an Schülerinnen und Schülern im Förderschulsystem ist durch eine ‚Verlagerung‘ eines kleinen Teils der Schülerinnen und Schüler aus den Förderschulen in die allgemeinen Schulen stärker ausgeprägt als im allgemeinbildenden Schulsystem (auf etwa 93 Prozent). Die Entwicklung der Schüler:innenzahlen der Förderschulen geht einher mit einer Verringerung der Anzahl an Förderschulen von 3.330 auf 2.806. Die durchschnittliche Anzahl der Schülerinnen und Schüler in den Förderschulen ist dabei mit 117 gegenüber 118 im Jahr 2008/09 nahezu konstant geblieben. Und auch bezüglich der Frage, in welchen Förderschwerpunkten das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf zugenommen hat, zeichnet die Datenanalyse ein klares Bild: Deutschlandweit ist die Exklusionsquote lediglich in zwei Förderschwerpunkten zurückgegangen, nämlich im Förderschwerpunkt ‚Lernen‘ und — deutlich schwächer — im Förderschwerpunkt ‚Sprache‘. Demgegenüber ist sie gestiegen in den Förderschwerpunkten ‚Geistige Entwicklung‘ und ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘.  In den übrigen Förderschwerpunkten gibt es keine oder allenfalls nur geringfügige Veränderungen.

Gleichzeitigt wird in der Analyse sehr deutlich, wie unterschiedlich die Entwicklungen in den Bundesländern aussehen: In zwölf Bundesländern ist die Exklusionsquote (zum Teil deutlich) gesunken. In dieser Gruppe zeigen insbesondere Bremen (Exklusionsquote rund Prozent), Schleswig-Holstein (rund 2,3 Prozent) und Berlin (rund 2,4 Prozent), dass die Zielsetzung der UN-Konvention in Deutschland durchaus erreichbar ist. Auf der anderen Seite finden sich mit Rheinland-Pfalz (rund 4,4 Prozent), Baden-Württemberg (rund 5,0 Prozent), Bayern (rund 4,7 Prozent) und dem Saarland (rund 4,2 Prozent) vier Bundesländer, in denen die Exklusionsquote in den vergangenen zwölf Jahren angestiegen ist.  Diese Differenz in den bundeslandspezifischen Entwicklungen zeigt sich auch beim Blick in die Förderschwerpunkte. So verzeichnet die große Mehrheit der Bundesländer in den Förderschwerpunkten ‚Lernen‘ und ‚Sprache‘ einen Rückgang der Exklusionsquote. Zugleich vermelden einzelne Bundesländer einen Zuwachs in diesen beiden Förderschwerpunkten: so im Bereich ‚Lernen‘ in Bayern oder im Bereich ‚Sprache‘ in Rheinland-Pfalz. Gleichzeitig reduzierte, Thüringen und gegen den bundesweiten Trend die Quote im Bereich ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ und in Bremen erreichte die Exklusionsquote im Schwerpunkt ‚Geistige Entwicklung‘ die magische Null-Prozent-Marke.

Inklusion in der Exklusion: Das gemeinsame Lernen bleibt eine Frage der Schulform

Das deutsche Schulsystem ist am Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe auf Selektion ausgelegt – zumindest gilt dies für die tradierten Schulformen. Damit wird die Verteilung der inklusiv unterrichteten Schülerinnen und Schüler auf die unterschiedlichen Bildungswege in den Sekundarschulen zum prinzipiellen Widerspruch, der im Zuge der Umsetzung der UN-BRK thematisiert und bearbeitet werden müsste. Dies passiert in der Regel aber nicht, was dazu führt, dass sich auch nach 12 Jahren die einzelnen Bildungswege der Sekundarschulen sehr unterschiedlich am inklusiven Unterricht beteiligen: Deutschlandweit lernen in den Schulen der Sekundarstufe I im Schuljahr 2020/21 lediglich 5,0 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Orientierungsstufen, 6,7 Prozent an Gymnasien, 8,4 Prozent an Realschulen und 15,6 Prozent an Hauptschulen. Nahezu zwei Drittel von ihnen (63,7 Prozent) werden indes an Schulen mit mehreren Bildungsgängen (20,7 Prozent) und an Gesamtschulen (43,0 Prozent) unterrichtet. Dieses Verteilungsmuster findet sich — mit geringfügigen Variationen — auch in den einzelnen Bundesländern.

Was das für die zukünftigen Bedarfe in den Bundesländern bedeutet, darum wird es in einem zweiten Blogartikel gehen. Die vollständige Studie von Klaus Klemm stellen wir zeitgleich mit dem zweiten Blogartikel hier bereit.  Also – bleiben Sie an Bord und lassen Sie uns gern wissen, welche Fragen und Ideen die Inklusionszahlen bei Ihnen erzeugen.

 

Quellen / Literatur 

KMK (2010): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1999 bis 2008. Berlin

KMK (2021): Vorausberechnung der Zahl der Schüler/-innen und Absolvierenden 2020 bis 2035. Berlin

KMK (2022): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020. Berlin

Statistisches Bundesamt (2022): Bildung und Kultur – Allgemeinbildende Schulen – Fachserie 11 Reihe 1  – Schuljahr 2020/21. Wiesbaden