Was brauchen Kinder und Jugendliche für ein gutes Leben? Welche Bedarfe, welche Wünsche haben sie und welche Ängste treiben sie um? Was wollen sie auf alle Fälle selbst entscheiden und wo möchten sie die Hilfe von Erwachsenen haben? – Diese und ähnliche Fragen beantworten Kinder und Jugendliche mitunter ganz anders als wir Erwachsenen. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir sie selbst dazu befragen. Doch bekommen wir Erwachsenen dieselben Antworten, die junge Menschen sich gegenseitig geben würden? Gelingt es nicht in einer Gruppe Gleichaltriger eher, die richtigen Worte zu finden und Fragen zu stellen, die das Gegenüber wirklich versteht? Schließlich geben wir selbst doch auch unsere Sorgen, Wünsche und Ideen in einem geschützten Rahmen unter Gleichgesinnten eher preis als vor Menschen, die uns fremd sind.

Genau diese Fragen hat sich das JugendExpert:innenTeam (JEx-Team) des Projektes „Familie und Bildung – Politik vom Kind aus denken“ der Bertelsmann Stiftung gestellt. Das JEx-Team besteht aus 17 Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen, die das Projekt seit Jahren beraten und unterstützen. Sie haben die Idee entwickelt, selbst Workshops für Kinder und Jugendliche durchzuführen, in denen sie „unter sich“ diskutieren, was sie für ein gutes Leben und Aufwachsen brauchen und wie sie gerne im Rahmen einer Bedarfserhebung befragt werden möchten. Wissenschaftlich unterstützt und begleitet wurde dieses partizipative Forschungsvorhaben von Prof’in. Dr. Sabine Andresen, Nadja Althaus und Jun. Prof’in. Dr. Karin Kämpfe.

Was ist das Besondere an einem partizipativen Forschungsvorhaben wie Peer2Peer?

Peer2Peer ist ein partizipatives Forschungsprojekt mit Kindern und Jugendlichen. Es zeichnet sich dabei durch folgende Besonderheiten aus:

  1. Mit dem JEx-Team gab es eine bereits bestehende Gruppe junger Menschen, die ein klares Ziel vor Augen hat: Kinder und Jugendliche sollen und müssen stärker einbezogen, gefragt und gehört werden. Sie hatten die Idee für das Peer2Peer-Projekt, sodass der erste Impuls für diesen Forschungsansatz von den Jugendlichen selbst kam. Wir als Bertelsmann Stiftung konnten dies aufgreifen und den Rahmen für das partizipative Vorgehen schaffen – inklusive einer Aufwandsentschädigung für die Jugendlichen.
  2. Als Co-Forschende gehören die Jugendlichen selbst zur Zielgruppe und möchten nicht als „besondere“ junge Menschen, sondern als ganz normale Jugendliche angesehen werden, die sie – in all ihrer Unterschiedlichkeit – sind. Um ihrer Rolle als Co-Forschende gerecht werden zu können, waren sie zugleich bereit, sich mit Blick auf wissenschaftliche Standards der Workshopleitung und Moderation schulen zu lassen und den Prozess über einen langen Zeitraum aktiv zu begleiten und zu reflektieren.
  3. Die beteiligten Wissenschaftler:innen haben sich auf diesen innovativen Forschungsprozess eingelassen, nach partizipativen und gleichwohl wissenschaftlich soliden Vorgehensweisen gesucht und diese erprobt. Sie haben die Veränderung ihrer eigenen Rolle akzeptiert und dies konsequent durchgehalten – von der Konzeption des Forschungsvorhabens bis zur Deutungshoheit über die Ergebnisse.

Da das Projekt mit Beginn der Corona-Pandemie gestartet ist, konnten in einer ersten Phase ausschließlich Online-Workshops mit Jugendlichen ab 16 Jahren durchgeführt werden. So fanden 11 Workshops digital statt. Erste Ergebnisse aus diesen Workshops präsentieren wir in diesem Blogbeitrag und in dem Zwischenbericht „Es geht ja darum: Was wollen wir!“. Im Jahr 2022 wurden dann weitere 14 Präsenz-Workshops mit jüngeren Kindern und Jugendlichen über ganz Deutschland verstreut durchgeführt. Der Abschlussbericht erscheint in Kürze.

Welche Themen sind jungen Menschen besonders wichtig, wenn sie über ihre Bedarfe sprechen?

In den Workshops des Projekts Peer2Peer haben junge Menschen eine große Bandbreite an Themen rund um ihr Leben diskutiert. In einer ersten Auswertung der Online-Workshops wurden z. B. folgende Themen herausgegriffen, die den jungen Menschen besonders wichtig waren.

Selbstbestimmung

Selbstbestimmung bzw. die Entwicklung eigener Lebensvorstellungen ist jungen Menschen enorm wichtig. Sie diskutieren diese auch in Abgrenzung zu den Eltern und den Erwartungen, die diese bzw. andere Erwachsene an sie haben.

„Man hat ja nun ein eigenes Leben und ja klar, Eltern meinen es immer gut und so. Und sie wollen auch immer das Beste für uns. Aber ich finde, wenn es alleine so ums Studieren geht oder um eine Ausbildung, es geht ja um uns so. Weißt du wie ich meine? Es geht ja darum: Was wollen wir! Interessieren wir uns also für sozialen Bereich, wollen wir eher ins so Marketing, Büromensch? Was wollen wir machen so?“

Was wollen wir! – Diese Forderung, die auch immer wieder als Frage gestellt wird, ist zentral in den Peer2Peer-Workshops: Jugendliche wollen gefragt und gesehen werden. Sie beschreiben, dass es ihnen nicht nur darum geht, man selbst sein und werden zu können, sondern sie problematisieren die dafür notwendigen Voraussetzungen. Insbesondere fordern sie, dass ihnen Zeit und Räume zur Verfügung stehen sollten: freie, selbstbestimmte Zeit in ihrem sonst eher eng strukturierten Tagesablauf sowie Räume, wie etwa das eigene Zimmer als Rückzugsort oder öffentliche und teil-öffentliche Räume, in denen Jugendliche zusammenkommen können.

Rechte

Rechte von Kindern und Jugendlichen wurden in den Diskussionen sowohl direkt als auch indirekt verhandelt. So ist Privatsphäre ein wichtiges Gut, im schulischen wie auch außerschulischen Kontext. Viele junge Menschen haben aber bereits Erfahrungen damit gemacht, dass ihre Rechte verletzt werden – wie etwa durch Diskriminierung, Abwertung – und beschreiben ein Gefühl von Ohnmacht.

Gesundheit

Gesundheit – sowohl körperliche als auch mentale – hat in den Diskussionen der jungen Menschen rund um ein gutes Leben ein besonderes Gewicht.

„Ich habe als erstes Gesundheit genommen und denke, dass die anderen auch Gesundheit genommen haben. Weil Gesundheit schon im Leben sehr wichtig ist.“

Gerade bei diesem Thema zeigte sich, dass Erwachsene und Jugendliche teils ganz unterschiedliche Wahrnehmungen haben und somit auch die Gruppendiskussionen unterschiedlich interpretieren. Während die (erwachsenen) Forschenden erstaunt bis sogar erschrocken darüber waren, welches Gewicht das Thema in den Gesprächen der Jugendlichen einnimmt, zeigten sich die jugendlichen Co-Forschenden davon wenig überrascht.

Zwar fanden die Workshops während der Pandemie statt, in der das Thema Gesundheit eher gesellschaftlich thematisiert wurde bzw. werden konnte, jedoch waren Aspekte physischer und psychischer Gesundheit bereits vor der Pandemie relevante Themen für die Jugendlichen. Die Aspekte Gesundheitsvorsorge, Eigenverantwortung und Wissen um gesunde Lebensweisen sind für Jugendliche wichtig. Sie diskutieren differenziert über den Sinn von gesunden, aber auch ungesunden Verhaltensweisen wie etwa dem Spaß, den ein unbeschwerter Abend mit Freund:innen in einem Fast-Food-Lokal bringt. Bewusst ist ihnen auch, dass Gesundheit mit finanziellen Aspekten zusammenhängt, z. B. mit Geld für gesundes (Bio-)Essen, sowie mit zeitlichen Einschränkungen (für Sport und Freizeit wie auch für gesunden und ausreichenden Schlaf). Nicht zu vernachlässigen sind in diesem Themenfeld auch Rollenbilder und Stereotype, die insbesondere durch die digitale Welt geprägt werden.

Wie kann man mit Kindern und Jugendlichen über ihre Bedarfe sprechen?

Darüber hinaus haben die Teilnehmenden der Workshops auch erarbeitet, wie Kinder und Jugendliche aus ihrer Sicht am besten zu ihren Bedarfen, Interessen und Sorgen befragt werden können. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur das „Was“, also um welche Themen und Inhalte es gehen sollte, entscheidend ist, sondern auch wie und wo sie gefragt werden (siehe Abbildung 1). Diese Aspekte spielen ihrer Meinung nach eine entscheidende Rolle dafür, ob junge Menschen an Befragungen teilnehmen können und wollen bzw. inwiefern sie sich auch öffnen und ihre Gedanken preisgeben möchten.

Nadja Althaus, Karin Kämpfe und Sabine Andresen (2022)

 

Diese ersten Ergebnisse weisen auf wichtige Themen und Bedarfe in der Jugendphase hin. Dabei ist nicht alles neu und überraschend. Vielmehr finden sich Themen wie Selbstbestimmung oder Privatsphäre auch in anderen Jugendstudien sowie der Jugendforschung. Der Blick der Jugendlichen auf diese Themen eröffnet dennoch neue Perspektiven und Überraschendes, wenn es um abzuleitende Bedarfe junger Menschen für ein gutes Leben geht. Es wird deutlich, was ihnen besonders am Herzen liegt, wie freie, unverplante Zeiträume, ein „safe space“ und Möglichkeiten, gesund leben und im Notfall auch wirklich Hilfe und Zugang zu Therapien bekommen zu können.

Zudem weisen die Jugendlichen auch auf Wege hin, wie Strukturen und Rahmenbedingungen gestaltet werden müssen, unter denen sie gut befragt und beteiligt werden könnten, wenn es um die Erhebung ihrer Bedarfe geht. Und genau diese Rahmenbedingen sind es, die wir Erwachsene für Kinder und Jugendliche in allen Lebensbereichen (z. B. Schulen, Kommunen, in Vereinen) schaffen müssen, damit sie mitreden und mitgestalten können. Zudem müssen wir ihnen mit einer offenen, vorurteilsbewussten Haltung begegnen. Denn junge Menschen wollen ihre Gegenwart und Zukunft mitgestalten – dazu haben sie ein Recht, das wir als Gesellschaft einlösen sollten.