Um Bildungskonzepte, die innere Verfassung und die demokratische Qualität von Schulen wird schon lange gestritten. Neben der staatlichen Anstaltsschule hat es stets ein reichhaltiges Angebot an reformpädagogischen Alternativen innerhalb und außerhalb der Regelschule gegeben. Ein Meilenstein für die Debatte über Schule, Bildung und Partizipation ist die UN-Kinderrechtskonvention (vgl. Roth 2021). Sie wurde von den Vereinten Nationen 1989 verabschiedet, 1992 von Deutschland mit Vorbehalten ratifiziert und ist seit der Rücknahme dieser Vorbehalte 2010 uneingeschränkt geltendes Recht. Es gilt für alle jungen Menschen unter 18 Jahren. Mit der Unterzeichnung hat die Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Selbstverpflichtungen übernommen. Vor allem geht es darum, diese Rechte schrittweise in den verschiedenen nationalen Rechtsbereichen – von der Verfassung bis zum Schul- und Familienrecht – umzusetzen und lebenspraktische Wirklichkeit werden zu lassen.

Dabei ist die UN-Kinderrechtskonvention keine beliebige Ansammlung von einzelnen Artikeln, die jeweils isoliert zu sehen sind. Vielmehr ergänzen sie sich und verweisen aufeinander. Deshalb wird die Kinderrechtskonvention gerne als Gebäude dargestellt, das auf drei Säulen ruht und von einem Dach gekrönt wird. Diese drei zentralen Säulen sind Schutz, Förderung und Beteiligung. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass diese drei Grundgarantien sich wechselseitig bedingen, unterstützen und tragen.

Schutz erfordert ebenso wie die Förderung von jungen Menschen deren Beteiligung. Die Kinderrechtsbewegung hat diese Sicht auf die einprägsame Formel gebracht: „Nichts für uns ohne uns!“ Umgekehrt ist Beteiligung nicht sinnvoll möglich, wenn es an Schutz und Förderung fehlt. Dieser wechselseitige Verweisungszusammenhang kann als eine der zentralen Innovationen der UN-Kinderrechtskonvention gelten und macht ihre Umsetzung besonders anspruchsvoll. So müssten aus kinderrechtlicher Perspektive beispielsweise alle Schulreformen mit der Beteiligung von Schüler:innen entwickelt und von ihnen evaluiert werden – eine wahrhaft revolutionäre Forderung im deutschen Schulwesen.

Die dritte Säule gehört vermutlich zu den bekanntesten, aber nur sehr eingeschränkt umgesetzten Normen der UN-Kinderrechtskonvention. Es geht dabei um Partizipation, die Berücksichtigung des Kindeswillens und das Recht auf Gehör. In Artikel 12 (1) heißt es:

„Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Dieses Recht auf Gehör wird durch weitere Rechte wie die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 13), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14) sowie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 15) unterstützt. Auffällig ist an dieser Fassung des Partizipationsrechts der umfassende Anspruch. Es soll für „alle das Kind berührenden Angelegenheiten“ gelten. Nahezu alle schulischen Belange und kommunalen Angelegenheiten sind somit eingeschlossen. Auch für Bundes- und Landesgesetze müsste es zumindest eine Prüfung der Kinderrechtsverträglichkeit geben. Aber Artikel 12 enthält auch Formulierungen, die als Einschränkungen gelesen werden können. Kindern wird z. B. gerne pauschal die Urteilsfähigkeit und die nötige „Reife“ abgesprochen und damit Beteiligung verweigert oder deren Meinung abgewertet.

Diese Praxis entspricht jedoch nicht dem Geist der Kinderrechtskonvention. Dort ist von „evolving capacities“, sich entwickelnden Fähigkeiten die Rede, die nicht zuletzt durch Beteiligungsprozesse selbst gefördert werden können. Partizipationskompetenzen entwickeln Kinder bereits in ihren Familien. Rund zwei Drittel aller Kinder wachsen heute in „Verhandlungsfamilien“ auf. Sie haben dort etwas zu sagen und können auch bei wichtigen Themen, wie zum Beispiel der Schulwahl, mitentscheiden. Diesen Impuls zur Mitsprache greifen aktuell verstärkt Kitas auf, wo Erzieher:innen die Erfahrung machen können, dass ihre pädagogische Arbeit durch die Beteiligung der Kinder an Qualität gewinnt und das Klima in der Einrichtung für alle Beteiligten besser wird. Mit dem Übergang zur Schule, zumindest nach der Grundschule werden Mitgestaltungserwartungen häufig enttäuscht und ein beteiligungsferner Realismus breitet sich aus.

Die drei Säulen des Kinderrechtsgebäudes tragen eine Kuppel, die besonders anspruchsvoll ist. Es geht dabei um den Vorrang des Kindeswohls. In der UN-Kinderrechtskonvention, Art. 3 (1), heißt es: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes (best interests of the child) ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Diese Norm bedeutet nicht, dass die Interessen von Kindern stets an erster Stelle zu stehen haben, sondern dass ihnen bei der Interessenabwägung ein besonderes Gewicht zukommt. Gerade das öffentliche Bildungswesen muss sich ebenfalls am Vorrang des Kindeswohls messen lassen. Dies geschieht jedoch höchst selten und oft sehr einseitig, wenn einzig messbare Lernerfolge interessieren, Bildungsungerechtigkeit und Ausgrenzungen hingenommen und Schulen nicht als Lern- und Lebensorte junger Menschen begriffen werden. Mit dem Vorrang des Kindeswohls ist auch ein Maßstab für die Qualität von Beteiligungsprozessen gesetzt.

Die UN-Kinderrechtskonvention enthält nicht zuletzt grundlegende Ausführungen zum Bildungsbereich. In Artikel 28 wird das Recht auf Bildung verankert und mit dem Ziel der Chancengleichheit verknüpft. Die Kinderrechtskonvention setzt dabei besondere Akzente. Das Recht auf Bildung ist hier als eigenes, individuelles Recht des Kindes ausgestaltet. Das Kind ist Subjekt und nicht das Objekt eines staatlichen Erziehungsauftrags. Dies wird auch in der Definition der Bildungsziele deutlich (Art. 29): Zentral ist der staatliche Auftrag, „die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen“.

Dies kann nur durch umfassende Beteiligungsprozesse gelingen. In einem umfangreichen Allgemeinen Kommentar (GC [General Comment] Nr. 12 – Ausschuss 2009) hat die UN-Kinderrechtskommission zur Bedeutung der Partizipation für Schulen detaillierte Ausführungen gemacht. „Im Bildungswesen ist die Achtung des Rechts des Kindes auf Gehör für die Verwirklichung des Rechts auf Bildung unerlässlich“ (GC 12, Rn. 105). Und weiter: „In allen Bildungseinrichtungen … sollte die aktive Rolle der Kinder in einem partizipativen Lernumfeld gefördert werden“ (GC Nr.12, Rn. 107). Entscheidend sei, dass es in Bildungsinstitutionen wie der Schule eine beteiligungsoffene Kultur gebe. Im Schulalltag werde dieses Recht durch „Autoritarismus, Diskriminierung, Missachtung und Gewalt“ in vielen Schulklassen regelmäßig beschränkt, so der UN-Kinderrechtsausschuss (GC Nr. 12 2009: Rn. 104).

Elementar für die Wahrnehmung der eigenen Rechte ist Menschenrechtsbildung und eine praktische Umsetzung dieser in der jeweiligen Einrichtung (GC Nr. 12 2009: Rn. 108). Kinder sollen an Entscheidungsprozessen dauerhaft beteiligt werden und unter anderem durch Klassenräte, Schüler_innenräte und Schüler_innenvertretungen in Schulgremien und -ausschüssen erreicht werden (GC Nr. 12 2009: Rn. 110). … Weiter soll die Bildung unabhängiger Schüler_innenorganisationen gefördert werden, um die kompetente Beteiligung von Schüler_innen an der Bildungspolitik zu fördern (GC Nr. 12 2009: Rn. 112).

Besonders die Idee unabhängiger Organisationen von Schüler:innen ist in Deutschland bislang weithin ohne Resonanz geblieben. Solche Organisationen hätten zumindest zwei Vorzüge. Zum einen sind sie nicht direkt in das schulische Machtgefüge eingebunden, wo Engagierte stets mit Sanktionen durch negative Benotungen etc. rechnen müssen. Zum anderen können sie eine übergreifende schul- und bildungspolitische Agenda entwickeln und so den Einfluss von Schüler:innen auf Bildungsreformen stärken. Dass Jugendliche diesen Anspruch durchaus haben, macht die Agenda von Jugendlandtagen deutlich, über die einige Bundesländer verfügen (Roth, Wenzl 2019).

 


Literatur:

GC Nr. 12 (Vereinte Nationen CRC [Children‘s Rights Convention]/C/GC/12) (2009): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Allgemeine Bemerkungen Nr.12. Das Recht des Kindes auf Gehör. Allgemeine Bemerkung Nr. 12: Das Recht des Kindes auf Gehör (institut-fuer-menschenrechte.de)

Roth, R. (2021): Junge Menschen und ihre Rechte in Schulen. Berlin: Aktion Courage e.V.

Roth, R.; Wenzl, U. (2019): Jugendlandtage in den Bundesländern. Zwischen Dialog, Beteiligung, politischer Bildung und Nachwuchsförderung. Berlin: Deutsches Kinderhilfswerk 2019 – online: www.dkhw.de/jugendlandtage

 


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