Das Recht auf Bildung findet sich nicht im Grundgesetz, aber in 13 Landesverfassungen – jedoch ohne Bezug auf die Kinderrechtskonvention. Ein Blick auf die einzelnen Bestimmungen ergibt, dass in einem reichen Land wie der Bundesrepublik zahlreiche Forderungen des Artikels 28 erfüllt sind. Grund- und Hauptschule sind kostenlos und verpflichtend. Zweifel stellen sich jedoch ein, wenn es um den Zugang zu weiterführenden Schulen und den Hochschulzugang geht. Die schulische Selektion erfolgt noch immer zu früh, um dem Anspruch auf Chancengleichheit in einer diversen Gesellschaft zu genügen.

Aus kinderrechtlicher Sicht sind Schulen strukturell ambivalente Orte. Einerseits garantieren sie das Recht auf Bildung, andererseits werden hier Kinderrechte nicht berücksichtigt, auch verletzt und kommt es zu Gefährdungen des Kindeswohls. Es geht dabei nicht in erster Linie um individuelles Fehlverhalten, sondern um „systemische Effekte“, die sich in folgenden Dimensionen bündeln lassen:

  • Folgen und Effekte des gegliederten Schulsystems: soziale Vererbung des Bildungserfolgs oder der Bildungsarmut sowie Chancenungleichheit beim Zugang zur Berufswelt.
  • Folgen der hierarchisch strukturierten Institution für die in ihr ablaufenden Prozesse und deren Folgen für Lernen und Entwicklung. Sie bestimmt das Rollenverhalten und die Interaktionen der Beteiligten sehr weitgehend.
  • Folgen der Organisation der Lernprozesse in der Schule. Es besteht ein lehrerzentriertes System, in dem Noten und Hausaufgaben als Mittel der Ungleichheitsverwaltung eingesetzt werden. In diesem Kernbereich gibt es keine Mitbestimmung der Schüler:innen.
  • Folgen der Partizipationsdefizite in der Schulkultur für die Gestaltung ihres Lebensraums und ihrer Lebenszeit in der Schule. Klagen über Leistungsdruck, Angst und Zeitdruck sind verbreitet. Durch gewachsene schulische Ansprüche bleibt das Recht auf Spiel und Freizeit oft auf der Strecke. Jedes fünfte Kind erlebt demütigende Umgangsformen, Mobbing ist noch stärker verbreitet. Die baulichen und räumlichen Unzulänglichkeiten vieler Schulen sind sprichwörtlich (vgl. Edelstein u.a. 2011).

Diese kinderrechtliche Grundsatzkritik ist mehr als 10 Jahre alt, doch in vielerlei Hinsicht noch immer aktuell und durch zahlreiche empirische Studien bestätigt. Schon 2009 stellte eine detaillierte Studie zur Beteiligung von 8- bis 12-Jährigen in Familie, Schule und Kommune fest: „Insgesamt wird der Schulalltag von Kindern als kaum mitbestimmt erlebt. Obgleich sie Mitbestimmung in der Schule als bedeutsam empfinden und es auch gut finden, wenn sie mitbestimmen können, werden ihnen hierzu offenbar nur wenig Möglichkeiten gegeben. Bemerkenswert erscheint alleine die Tatsache, dass rund jeder vierte Schüler angibt, in der Schule ‚überhaupt nicht’ mitbestimmen zu können. … Besonders wenig mitbestimmt sind dabei die Themen, welche unmittelbar die Lehrerautorität berühren, also vor allem ‚Notengebung’, ‚Haus- und Klassenarbeiten’ sowie ‚Unterrichts- und Pausenregeln’“ (Schneider u.a. 2011: 116f.). Zu ähnlich negativen Ergebnissen kommt ein Kinderrechte-Index von 2019: „Die Frage nach konkreten Mitentscheidungsmöglichkeiten in der Schule zeigt, dass Kinder umso weniger gefragt werden, je weitreichender die Konsequenzen von Entscheidungen sind“ (DKHW 2019: 29).

Die formellen Mitbestimmungsmöglichkeiten und verfassten Gremien (Klassensprecher:innen, Schüler:innenvertretungen auf Schulebene etc.) werden – bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen – vielfach als „Schein- und Alibipartizipation“ erlebt. Dieses negative Fazit des 16. Kinder- und Jugendberichts gilt auch für die Beteiligung an „einer demokratischen Schulentwicklung und einer Mitgestaltung im Sinne einer demokratischen Unterrichtskultur. Die positiven Schulbeispiele … können letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Bezug auf Partizipationsmöglichkeiten, Partizipationsqualität und Entwicklung einer Partizipationskultur in der Schule ein deutlicher Entwicklungs- und Handlungsbedarf besteht“ (BMFSFJ 2020: 234). Dass Schüler:innen durchaus bereit sind, ihren Beitrag zur demokratischen Schulentwicklung zu leisten und sich dazu auch kompetent fühlen, zeigt eine aktuelle Befragung aus Nordrhein-Westfalen. Danach sind es gerade die „harten“ schulischen Themen (Unterrichtsthemen und -inhalte, Arbeitsmethoden und -zeiten, Benotungen etc.), bei denen Schüler:innen verstärkt mitbestimmen wollen (Herfurth u.a. 2023).

 

Kinderrechtsorientierte Reformansätze.

Angesichts der eher düsteren Zwischenbilanz ist Abhilfe gefragt. Es gibt seit Jahrzehnten Reformschulen und Netzwerke, die sich um eine Stärkung der Kinderrechte in Schulen bemühen. Dazu gehört das Unicef-Programm der Kinderrechte-Schulen, die es z. B. in Hessen gibt und deren Ansätze in einer Modellphase 2002 bis 2007 entwickelt wurden. Das Gros der Schulen aus dieser Phase ist diesem Ansatz treu geblieben und neue Schulen sind durch eine Stiftung unterstützt hinzugekommen. Parallel hat das Programm der Bund-Länder-Kommission „Demokratie lernen & leben“ (2002 bis 2007) experimentiert und Standards für eine demokratische Schulkultur entwickelt. Der 16. Kinder- und Jugendbericht hat 20 Empfehlungen zur Demokratiestärkung an Schulen vorgelegt, die auf ihre Umsetzung warten (BMFSFJ 2020: 234ff.). An praxistauglichen Modellen und anregenden Initiativen herrscht offensichtlich kein Mangel, wie mehrere praxisnahe Sammelbände aus der jüngsten Zeit dokumentieren.

Eine kinderrechtlich geprägte Schulkultur sollte eine zentrale Grundlage für demokratische Schulreformen der Zukunft bilden. Sie kann für alle Beteiligten Schulen zu demokratischen Lernorten machen und angesichts multipler Krisen und Herausforderungen die so notwendige gemeinsame Handlungsfähigkeit steigern helfen. Die Erfahrungen von Schüler:innen mit den Folgen von COVID-19 haben die Dringlichkeit von mehr Partizipation noch einmal überdeutlich vor Augen geführt. „Missachtet und abgehängt“ lautet eine Zusammenschau aus kinderrechtlicher Perspektive (Maywald, Pergande 2022). Dies ist jedoch nur eine Facette einer verbreiteten Stimmungslage. Die für den Kinderreport 2022 (DKHW 2022) befragten jungen Menschen zwischen 10 und 17 Jahren sind zu 76 Prozent der Meinung, dass der Staat zu wenig für die Zukunftschancen der jungen Generation investiert, wobei die Hauptschüler:innen dies sogar zu 81 Prozent so sehen. Bessere Schulgebäude und bessere Bildung stehen an der Spitze ihrer Forderungen. Auch 95 Prozent der gleichzeitig befragten Erwachsenen sprechen sich für Investitionen in eine chancengerechte Bildung aus. Ohne die wirksame Partizipation von Kindern und Jugendlichen dürfte sich an dem auf Dauer brisanten und unhaltbaren Zustand – zumal in der kriegsgeprägten „Zeitenwende“ – kaum etwas ändern.


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