Der aktuelle Bericht der UN-Monitoringstelle für die Behindertenrechtskonvention stellt im Sommer 2023 sehr nüchtern fest: „Deutschland ist geprägt von einem ausdifferenzierten System von Förderschulen für Kinder mit Behinderungen. Eine Transformation hin zu einem inklusiven Schulsystem findet nicht statt“. Der entscheidende Gradmesser ist dabei die Tatsache, dass die zunehmende Zahl an Kindern mit Förderbedarfen noch immer überwiegend (aktuell zu 55,3 Prozent) in Sonderschulen beschult werden. Dieser hohe Anteil an Schüler:innen mit Förderbedarf, die in Sonderschulen beschult werden (sog. Exklusionsanteil), widerspricht den Vereinbarungen und Vorgaben der UN-BRK und ist politisch problematisch, weil er seit Jahren stagniert. In den Anfangsjahren der Inklusion konnten in Deutschland sowohl die Exklusionsquote als auch der Exklusionsanteil deutlich gesenkt werden, ab etwa 2015 ist jedoch ein teils bewusstes Ausbremsen der Inklusion feststellbar.

Trotz einer langjährigen Debatte und stellenweise engagierten Inklusionspraxis ist die Exklusionsquote in Deutschland seit 20 Jahren unverändert hoch. Sie stagniert aktuell bei 4,3 Prozent, was gegenüber 2000 nur einer geringfügigen Abnahme entspricht. Dabei zeigt die Exklusionsquote in Bezug auf Höhe und Entwicklung in den Ländern eine erhebliche Bandbreite auf: Bremen markiert mit der niedrigsten Exklusionsquote und der stärksten Absenkung der Exklusionsquote den besten Wert. Sachsen‐Anhalt und Mecklenburg‐Vorpommern weisen dagegen seit Jahren die höchsten Exklusionsquoten auf.

In meiner Studie „Inklusive Bildung in Deutschland – Beharrungskräfte der Exklusion und notwendige Transformationsimpulse“ von 2021 konnten Ländergruppen in Bezug auf den Stand und die mittelfristige Entwicklung der Exklusionsquote hergeleitet werden. Auch wenn bezogen auf einzelne Indikatoren Überlappungen bestehen können und in der zeitlichen Betrachtung teilweise gegenläufige Dynamiken die Länderpositionen im Mittelfeld unklar erscheinen lassen, so lassen sich auf Basis der bisherigen Analyse doch relativ klar Ländergruppen bestimmen (Abb. 1).

(c) Mark Rackles

Die „Inklusionsländer“ weisen niedrige Exklusionsquoten auf, zeigen jenseits der langfristigen Entwicklung in den letzten Jahren sinkende Exklusionsquoten (und in der Tendenz parallel steigende Inklusionsquoten), haben unterdurchschnittliche Quoten im Förderschwerpunkt LSE (Lernen, Sprache, Emotional-Sozial) an Sonderschulen und einen niedrigen Anteil von Sonderschüler*innen am privaten und öffentlichen Gesamtbestand der Schüler*innen.

Die „Exklusionsländer“ stehen für das Gegenteil und erfüllen weder in der lang‐ noch mittelfristigen Betrachtung die Anforderungen eines inklusiven Transformationsprozesses. Sowohl bei den Inklusions‐ als auch bei den Exklusionsländern gibt es jeweils eine Kerngruppe und eine etwas weniger eindeutige Ländergruppe im Umfeld der Kerngruppe. Ambivalente Länder sind aktuell Brandenburg, das Saarland und Schleswig-Holstein, die allerdings jeweils deutliche Entwicklungstendenzen aufweisen (Brandenburg und das Saarland in der Tendenz in Richtung Exklusion, Schleswig-Holstein in Richtung Inklusion).

Die eingesetzten Abwehrstrategien der Inklusionsgegner sind dabei sehr unterschiedlich. Hubert Hüppe (CDU), der langjährige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, formulierte 2017 sehr eingängig: „Wer Inklusion will, sucht Wege, wer sie nicht will, Begründungen“. In diesem Sinne stellt auch Dr. Palleit, Leiter der deutschen Monitoringstelle der UN-BRK ganz aktuell fest: „Wir beobachten mit Sorge, dass unterschiedliche Akteur*innen aus Politik und Gesellschaft die Beibehaltung von Doppelstrukturen legitimieren und dies als Inklusion verkaufen. Konkret werden zum Beispiel Werkstätten oder Förderschulen als Teil eines inklusiven Systems bezeichnet. Das sind sie aber nicht, weil sie Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen drängen. 2015 hat der UN-Ausschuss empfohlen, Sondersysteme schrittweise abzubauen“.

In den letzten Jahren haben Länder wie Bayern diese sprachliche Abwehrstrategie der Inklusion in Form der Umdeutung von Sonderschulen zu Förderschulen aktiv betrieben und sie teilweise zu Bestandteilen einer inklusiven Bildung erklärt. Dieser Ansatz einer Inklusion durch Exklusion ist zwar in sich widersinnig und unlogisch, sprachlich jedoch eingängig und in den Kernländern der Exklusion ebenso verbreitet wie auch bei wichtigen privaten Trägern von Sonderschulen. So titelt eine Presseerklärung der Katholischen Jugendfürsorge z. B. 2019: „Förderschulen stehen für Inklusion“. Im aktuellen bayerischen Koalitionsvertrag findet sich die Feststellung „Unsere Förderschulen sind unverzichtbare sonderpädagogische Kompetenzzentren und ein Motor für Inklusion in Bayern“. In der Praxis wird in Bayern aus diesem Verständnis heraus Sonderschulen sogar der Status „Schule mit dem Profil Inklusion“ verliehen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Staatsprüfung, die Deutschland in Bezug auf die Umsetzung der UN-BRK (und hier insbesondere im Bereich der inklusiven Bildung) ein Armutszeugnis ersten Ranges ausstellt, stellt sich die Frage, wie wieder an die dynamische Anfangszeit des Transformationsprozesses in Deutschland angeknüpft werden kann. In der bereits erwähnten Studie von 2021 werden acht Handlungsempfehlungen formuliert, die heute so aktuell sind (wenn nicht aktueller) wie im Jahr 2021:

  1. Angesichts der heterogenen Lage in den Ländern muss die KMK im Jahr 14 nach Ratifizierung der UN-BRK eine politische Erklärung formulieren, in der das auf Bundesebene (insb. auch Kultusministerkonferenz [KMK] und Hochschulrektorenkonferenz [HRK]) vorherrschende weite Inklusionsverständnis und der damit einhergehende Transformationsauftrag (inkl. Rückbau von Sonderschulen) für alle Länder bekräftigt wird.
  2. Jenseits der KMK, die durch das Einstimmigkeitsprinzip bedingt keine Impulsgeberin in Sachen Inklusion sein wird, bedarf es einer nationalen „Initiative Inklusive Schule 2030“, in die sich auch der Bund einbringen muss.
  3. Es muss ein länderübergreifender Planungsrahmen für ein inklusives Bildungssystem in Deutschland geschaffen werden, der einen bundesweiten Austausch (im Idealfall: eine bundesweite Verständigung) über Standards, Indikatoren und Rahmenbedingungen inklusiver Bildung (u. a. Ausstattungs- und Raumstandards; nicht zuletzt auch Standards zur Diagnostik) gewährleistet.
  4. Das auf Völkerrecht gründende Recht auf inklusive Bildung bedarf nicht zuletzt aus politischen Gründen der Ergänzung durch ein Grundrecht auf (inklusive) Bildung im Grundgesetz.
  5. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK sollte das Thema Sonderpädagogik aufgreifen und überprüfen, ob ein eigenständiges Lehramt Sonderpädagogik (KMK-Lehramtstyp 6) vor dem Hintergrund und den Anforderungen eines inklusiven Bildungswesens im 21. Jahrhundert noch zu rechtfertigen bzw. zweckmäßig ist.
  6. Die öffentliche Debatte um das inklusive (und exklusive) Bildungswesen sollte sich auf die großen Kernländer der Exklusion konzentrieren und muss zivilgesellschaftlich begleitet und verstärkt werden. In einer besonderen Verantwortung als Impulsgeber stehen hier auch die beiden christlichen Kirchen als große Träger von Sonderschulen.
  7. Die Länder müssen neben dem allgemeinen Sonderungsverbot (Art. 7 Abs. 4 GG) auch einer mittelbaren Sonderung unter dem Label des sonderpädagogischen Förderbedarfs an Privatschulen entgegenwirken.
  8. Inklusionsbefürworter:innen müssen auf Exklusion gerichteten Abwehrstrategien offensiver als bisher entgegentreten und insbesondere an den organisatorischen Abwehrstrategien der Förderzentren, des Lehramts Sonderpädagogik und den Regelungen zu schulischen Mindestgrößen politisch ansetzen.

Die aktuelle Staatenprüfung der UN ist ein guter Anlass, um sich in Deutschland auf die Notwendigkeit und die rechtliche Verpflichtung zum Ausbau eines inklusiven Bildungssystems zu besinnen. Da die Beharrungskräfte der Exklusion ausgesprochen stabil sind, müssen bildungspolitische Verantwortungsträger:innnen offensiver als bisher wieder im o. g. Sinne für den Aufbau inklusiver Strukturen eintreten und das Monitoring der weiteren Entwicklung unterstützen und ausbauen. Wir schulden das nicht irgendwelchen Berichtspflichten, wir schulden dies unseren Kindern.

 


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