Sie sind Mitinitiator des „Bildungsrat von unten!“. Was können wir uns unter dieser, wie Sie sie nennen, „etwas anderen Kultuskonferenz“ vorstellen?

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK hat Ende Januar 2023 Vorschläge zur vermeintlichen Lösung des akuten Lehrkräftemangels veröffentlicht. Diese Vorschläge haben einige Leute, die sich entweder, wie ich, seit längerem mit dem Problem beschäftigen oder die direkt in der Praxis betroffen sind, so sehr vor den Kopf gestoßen, dass sich eine virtuelle Gegenbewegung entwickelt hat. Ich habe mich noch am Tag der Veröffentlichung mit drei Bildungsaktivist:innen aus den sozialen Medien (Bob Blume, Susanne Posselt und Philipp Dehne) vernetzt und eine Homepage (www.bildungsrat.org) gebucht und aktiviert. Seit Anfang Februar versammeln sich Praktiker:innen aus dem schulischen Bereich beim „Bildungsrat von unten!“.

Das Motiv der Gründung und des Engagements liegt im Bestreben, den Praktiker:innen vor Ort (Lehrkräften, Erzieher:innen, Schüler:innen, Eltern, Lehramtsstudierenden, Sozialarbeiter:innen etc.) Gehör zu verschaffen und sowohl die Wut als auch die Sachkompetenz konstruktiv zu bündeln. Wir arbeiten in digitalen Foren an vier Themenclustern, die sich aus der Vielzahl der Zuschriften bündeln ließen: 1. Fragen der Ausbildungskapazitäten, 2. Reform des Lehramtsstudiums, 3. Bedarfssenkende Maßnahmen und schließlich 4. Arbeitszeit/Entlastungsmaßnahmen. Inzwischen haben wir auch zweimal digital als Plenum getagt.

Wenn man uns zwischen ChatGPT und SWK verorten wollte, dann sind wir sowas wie eine virtuelle menschliche Schwarmintelligenz, die Ende des Jahres ein praxisorientiertes Gutachten zum Lehrkräftedefizit vorlegen wird. Gerade konnten wir die tausendste Aktivistin in unseren Reihen begrüßen, und es kommen täglich mehr dazu.

2023 hat sich der „Bildungsrat von unten!“ intensiv mit dem Gutachten der SWK „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“ beschäftigt, insbesondere mit der dort formulierten Empfehlung „Möglichkeit zur Teilzeitarbeit begrenzen“. Der „Bildungsrat von unten!“ kommt zu der Einschätzung, dass diese Empfehlung „ungeeignet und mittelfristig kontraproduktiv“ ist. Auf der Homepage kündigt der Bildungsrat an, im Laufe des Jahres 2023 eine Stellungnahme zu erarbeiten, die konkrete Vorschläge zum Lehrkräftebedarf in ein Leitbild einbettet, das Schule neu denkt. Mögen Sie uns hier einen Einblick in den Maschinenraum geben?

Wir haben uns das Thema Teilzeit bei Lehrkräften als erstes vorgenommen, da hier die Thesen der SWK am steilsten waren (es wurde ein Potential von bis zu 200.000 Vollzeitäquivalenten unterstellt) und hier am offensichtlichsten unseriös gearbeitet worden ist. Inzwischen hat sich die SWK teilweise korrigiert. Das zeigt aber gerade, wie wichtig eine unabhängige, kritische und konstruktiv ausgerichtete Instanz ist, die der KMK gelegentlich den Spiegel vorhält. Aktuell beschäftigen wir uns mit dem realen Ausbildungsdefiziten in den Ländern; erst wenn man diese seriös und nachvollziehbar bestimmt, werden sowohl das Ausmaß als auch die langfristigen Handlungsnotwendigkeiten klar.

Und ja, bereits bei unserem ersten Plenum wurde klar, dass die Strukturdefizite und Handlungszwänge im Bereich Fachkräfteversorgung das eine sind. Wir dürfen aber nicht nur im Status quo herumdoktern, sondern müssen auch die grundsätzliche Frage nach unserem gesellschaftlichen Leitbild von Bildung und nach einer zeitgemäßen Vision von Schule aufwerfen. Daher werden die vier Themencluster, an denen wir arbeiten, am Ende auch in ein gemeinsames Leitbild eingebunden werden. Das dürfte die größte inhaltliche Herausforderung für den „Bildungsrat von unten!“ werden. In jedem Fall richten wir uns nicht nur an die Kultusministerien und die KMK. Es geht auch um eine Aktivierung der Zivilgesellschaft und die Notwendigkeit, die Bedarfe und die Ziele von Bildung im 21. Jahrhundert mutig neu zu denken.

Für 2024 hat die ständige wissenschaftliche Kommission ein neues Gutachten zur Lehrkräftebildung angekündigt. Was dürfen wir in diesem Zusammenhang vom „Bildungsrat von unten!“ erwarten? 

Nach der ersten Stellungnahme vom Januar 2023, die eher politisch als wissenschaftlich war, hoffe ich, dass sich die SWK mit ihrem angekündigten Gutachten zur Lehrkräftegewinnung und Lehrkräftequalifizierung wieder stärker auf die wissenschaftliche Herleitung von Zusammenhängen und die Bestimmung von Handlungsspielräumen konzentriert. Schlussfolgerungen muss die Politik ziehen. Der Fokus wird aber nach den bisherigen Ankündigungen sehr stark auf Unterrichtsqualität liegen.

Ein Problem dürfte allerdings darin bestehen, dass die SWK eigentlich befangen ist, wenn es um kritische Strukturfragen zum universitären Ausbildungssystem zum Lehramt geht: Fast alle Akteure und Akteurinnen sind selbst Teil des Systems. Der „Bildungsrat von unten!“ wird im Gegensatz dazu ohne Scheuklappen auch strukturelle Fragen in Bezug auf die bisherige Organisation der Lehramtsausbildung und grundsätzliche Fragen in Bezug auf Unterrichtsinhalte stellen können. Wir planen in jedem Fall eine fundierte Stellungnahme bis Ende 2023. Quantität ist zwar nicht alles, aber ich bin zuversichtlich, dass Ideen und Zuarbeiten von über 1.000 Fachleuten aus der Praxis mindestens so interessant werden, wie das Ergebnis der Beratungen von 16 Professor:innen.

 

Schule21 bedankt sich herzlich für das Gespräch.