Zwei Aspekte bestimmen derzeit die deutsche Bildungsdebatte: Der Abwärtstrend bei den Basiskompetenzen in Grund- und weiterführenden Schulen und der Lehrkräftemangel, unter dem praktisch alle Bundesländer derzeit leiden. Dringend notwendige Investitionen in die pädagogische Qualität erscheinen angesichts fehlender Lehrkräfte nicht realisierbar. Das ist besonders schmerzlich mit Blick auf die frühen Schuljahre. Alle Kinder, die die Grundschule ohne ausreichende Basiskompetenzen verlassen, verfügen kaum über eine Chance auf eine erfolgreiche weitere Bildungsbiografie und damit auf langfristige Teilhabe.  

Verstärkter Handlungsbedarf und gleichzeitig sinkende Handlungsspielräume 

Diese Ausgangslage scheint vertrackt. Dies umso mehr, als nun auch die Kultusministerkonferenz in ihrer aktuellen, im Windschatten von PISA 2023 veröffentlichten Lehrerbedarfsberechnung bis 2035 einen Lehrkräftemangel in Höhe von etwa 68.000 Personen prognostiziert. Damit liegen diese offiziellen Zahlen erstmalig fast punktgenau bei den Werten, die Klaus Klemm für den VBE im Jahr 2022 ermittelt hatte.  

Personelle Entspannung an den Grundschulen 

Einen möglichen Hoffnungsschimmer bieten aktuelle Berechnungen von Klaus Klemm und mir. Zumindest an den Grundschulen dürfte sich die angespannte Personalsituation sehr bald entspannen. Sogar so sehr, dass zusätzliche Investitionen in pädagogische Verbesserungen möglich wären.  

Diese Entwicklung hat zwei Gründe: zum einen die Geburtenentwicklung, die seit 2022 deutlich unter den Erwartungen bleibt und in einigen Jahren zu sinkenden Schülerzahlen in der Primarstufe führen wird. Zum anderen macht sich die vor einigen Jahren politisch eingeleitete Ausweitung der Studienplatzkapazitäten an den Hochschulen für das Lehramt an Grundschulen bemerkbar; es stehen mehr ausgebildete Grundschullehrkräfte bereit als in den letzten Jahren.  

Zusammengenommen heißt das: Schon im kommenden Jahr könnte ein Absolvent:innenüberschuss entstehen, der sich bis 2035 auf knapp 45.000 Personen aufsummiert. Einem Einstellungsbedarf von etwas mehr als 50.000 Personen, um ausscheidende Lehrkräfte zu ersetzen und die Unterrichtsversorgung sicherzustellen, steht im selben Zeitraum ein Angebot von mehr als 96.000 ausgebildeten Grundschullehrkräften gegenüber.  

Politische Weichen jetzt stellen, um personelle Spielräume pädagogisch zu nutzen 

Heißt das, wir laufen in den historisch sich wiederholenden Zyklus aus sich gegenseitig verstärkenden Phasen des Mangels und des Überangebots hinein? Wenn Politik die aktuelle Entwicklung frühzeitig in den Blick nimmt und mit den Finanzminister:innen vorausschauend plant, ist auch eine andere Entwicklung denkbar.  

Schon Anfang 2018 hatten wir in unserer Studie „Lehrkräfte dringend gesucht“ auf die Möglichkeit hingewiesen, dass eine Ausweitung von Studienplätzen fürs Grundschullehramt für die eigentliche Krise zwar zu spät kommen, für pädagogische Reformvorhaben aber einen Lichtblick darstellen könnte. Daran anknüpfend schlagen wir drei Handlungsfelder vor, in denen die zusätzlich ausgebildeten Lehrkräfte einen echten Unterschied machen könnten.  

Erstens könnten wir jetzt systematisch in eine echte bedarfsorientierte Personalressourcensteuerung nach Hamburger Vorbild einsteigen. So konsequent und signifikant wie Hamburg stattet kein anderes Bundesland derzeit die Schulen personell abhängig vom jeweiligen Bedarf aus. Mit dem Überangebot an Absolvent:innen könnte der Einstieg in ein solches System jetzt auch andernorts geschafft werden. Die Gelegenheit dafür ist günstig, denn die zusätzlichen Stellen könnten dauerhaft geschaffen werden, ohne dass anderen Schulen in privilegierten Lagen Personalressourcen gestrichen werden müssten. Auch Hamburg hat seinerzeit den Einstieg so bewerkstelligt und damit breite Akzeptanz für das Modell erreicht. Das Startchancen-Programm liefert dafür den geeigneten Rahmen, denn erstmals werden Sozialindices in allen Bundesländern entwickelt. Gleichzeitig fehlt bislang eine Säule, die auch mehr Lehrkräfte im Brennpunkt vorsieht, um die dringend benötigten Fördermaßnahmen zur Stärkung der Basiskompetenzen umzusetzen.  

Zweitens helfen zusätzliche Lehrkräfte in den nächsten Jahren auch dabei, ein weiteres politisches Reformvorhaben nicht an fehlenden personellen Ressourcen scheitern zu lassen, nämlich den geplanten Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder. Zwar werden hier für die ab 2026 geplante, stufenweise Einführung schwerpunktmäßig andere pädagogische Professionen gefragt sein. Doch der Mix auch mit Lehrkräften, die außerhalb des eigentlichen Unterrichts eingesetzt werden, macht pädagogisch Sinn und schafft erwiesenermaßen auch einen Mehrwert für bessere individuelle Förderung im Unterricht selbst. Deshalb empfiehlt unter anderem die Bertelsmann Stiftung schon länger, auch auf Lehrkräfte im Ganztag als einen pädagogischen Baustein zu setzen.  

Schließlich können zusätzliche Absolvent:innen im Lehramt für die Primarstufe natürlich auch einen Beitrag zur Linderung des Mangels an den weiterführenden Schulen leisten, der noch länger bestehen wird. Warum nicht schon Studierenden noch im Studienverlauf eine Zusatzqualifizierung für die 5. und 6. Jahrgangsstufe anbieten, so dass sie ihr berufliches Einsatzspektrum erweitern können? Ein Einsatz in diesen Jahrgängen erscheint auch vor dem Hintergrund plausibel, dass Brandenburg und Berlin über sechsjährige Grundschulen verfügen und Lehrkräfte bereits heute dementsprechend ausbilden.  

Wichtig wäre in jedem Fall, dass Schulpolitiker:innen sich frühzeitig in den Ländern mit dem von uns (für Deutschland insgesamt) dargelegten möglichen Entwicklungsszenario für ihr jeweiliges Bundesland befassen und auch die Finanzpolitiker:innen für weitere Überlegungen ins Boot holen. Angesichts enger werdender haushalterischer Spielräume sind zusätzliche Aufwendungen für mehr pädagogisches Personal keine Selbstverständlichkeit. Ein politisches Agreement, personelle Spielräume konsequent zu nutzen, indem man jungen Absolvent:innen eine berufliche Perspektive in ihrem Wunschberuf bietet und damit eine Trendumkehr bei der Entwicklung der Basiskompetenzen unterstützt, wäre aber das Gebot der Stunde.  

 


Hier geht’s zur Studie.

Weitere Beiträge zum Lehrkräftemangel auf diesem Blog: 

Lehrermangel bis 2025 enorm – ein Bündel an Lösungen ist gefragt – Schule-Lernen-Bildung im 21. Jahrhundert (schule21.blog) 

Lehrkräftemangel und Lehrkräftebildung

 

Am 07.02.2024 veröffentlichten wir ein Q&A zur Studie auf diesem Blog:

Q&A zur Studie Weniger Geburten, mehr Lehrkräfte: Spielraum für die Grundschulentwicklung