In diesem Jahr feiern wir das 10-jährige Bestehen des ‘‘Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘‘ (UN-BRK). Am 26. März 2009 trat das bereits drei Jahre zuvor von den Vereinten Nationen verabschiedete Übereinkommen auch in Deutschland in Kraft. Mit der Unterzeichnung der UN-BRK verpflichtete sich Deutschland, ein inklusives Schulsystem zu schaffen, in dem alle Kinder optimal gefördert werden können.
Ebenso feiern wir in diesem Jahr das 10-jährige Jubiläum des Jakob-Muth Preises. Denn seit 2009 zeichnet die Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit der Deutschen UNESCO Kommission sowie dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen jedes Jahr die besten inklusiven Schulen Deutschlands aus.
In diesen 10 Jahren wurden insgesamt 33 Schulen bzw. Schulverbunde aus 13 Bundesländern, von Flensburg in Schleswig-Holstein bis Thalmässing in Bayern, ausgezeichnet. Auch wenn die generelle Zwischenbilanz zur Inklusion in Deutschland mit Sicherheit eine gemischte ist, es nach wie vor große Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt und die Exklusionsquote nur langsam sinkt, haben so doch unterschiedlichste Schulen gezeigt, dass gute inklusive Schule machbar ist.
Was alle Preisträger eint, ist der Wille alle Kinder entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen optimal zu fördern – damit gehen sie als gutes Beispiel für andere Schulen voran.
Ein besonderes Highlight ist Jahr für Jahr der feierliche Festakt inklusive der Preisvergabe. Besonders im Mittelpunkt stehen dabei die Schülerinnen und Schüler, die alle Gäste stets mit tollen Bühneneinlagen begeistern. Von Akrobatik über Theater und Chor war wahrlich schon alles dabei.
In diesem Jahr fand die Preisverleihung am 25.09.2019 in der Zitadelle in Berlin-Spandau statt. Aus allen Schulen waren Delegationen da, um den Preis entgegenzunehmen und die Schülerinne und Schüler begeisterten erneut das Publikum mit ihren tollen Darbietungen: gerappte Balladen, Harfenkonzert und Klarinettensolo, „Lieblingsband“ und ein Standbild: „Wie wir uns die Welt wünschen“ – alles war dabei. Die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres, und der Minister für Bildung, Jugend und Sport, Helmut Holter, ließen es sich nicht nehmen, „ihren“ Schulen den Preis direkt zu überreichen.
Seht selbst, wie emotional die Preisverleihung war:

Die Friedenauer Gemeinschaftsschule Berlin – eine Schule für ALLE

Die Friedenauer Gemeinschaftsschule wurde im Jahr 2012 in einem Fusionsprozess von vier Schulen gegründet: zwei Grund-, eine Haupt- und eine Realschule sind in einer Schule aufgegangen. Aufgrund der Zusammenlegung befindet sich die Schule in verschiedenen Gebäuden, die aber alle fußläufig gut zu erreichen sind. Die beiden Grundschulen hatten bereits seit 1982 Erfahrungen mit dem Modell der „wohnortnahen Integration“ von Schüler*innen mit Behinderung sammeln können. „Inklusion bedeutet für uns die Akzeptanz und Wertschätzung der Heterogenität aller Kinder, unabhängig von ihren Begabungen, Beeinträchtigungen, Geschlechterrollen, ihrer ethnischen, nationalen und/oder sozialen Herkunft oder anderen kategorialen Eigenschaften“, beschreibt die Schule ihr Selbstverständnis. Von den rund 840 Schüler*innen haben im Durchschnitt ca. 60 Prozent einen Migrationshintergrund und 14 Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf.

Festakt Jakob Muth Preis in Berlin am 25. September 2019; Fotograf: Thomas Kunsch

Die Friedenauer Gemeinschaftsschule versucht ihr Motto „Schule für ALLE“ bis ins Kleinste zu leben. Jedes Mitglied der Schule erhält zahlreiche Möglichkeiten, sich in der Gemeinschaft individuell zu entwickeln und zu entfalten. Der Anspruch der Schule an sich selber ist: „Kein Kind soll unsere Schule verlassen, ohne die eigenen Stärken zu kennen und besondere Talente oder Leidenschaften ausprobiert zu haben.“ Um das zu erreichen, versucht die Schule durch verschiedene Angebote, alle Schüler*innen in allen Lebenslagen möglichst individuell zu unterstützen. Juliane Winkler, Leiterin des Ganztags der Grundstufe, sagt: „Ich glaube, dass wir an vielen Stellen schon richtig viele gute Lösungen gefunden haben und manchmal viel zu wenig wissen, wieviel gute Lösungen wir schon haben. Und das ist vielleicht ein Geschenk mit dem Preis, dass wir innehalten und sagen können, wow, das haben wir schon geschafft. Und gleichzeitig zeigt uns der Alltag an Einzelfällen, dass wir immer noch nicht weit genug sind, und dass wir immer noch unseren Spielraum erweitern müssen und weiter lernen müssen.“ Um das zu erreichen, bestreitet die Schule ihren Alltag mit einer großen Portion Kreativität und Einfallsreichtum – jeden Tag.
 

Die Gemeinschaftsschule Kulturanum Jena – mit Musik begeistern

„Das System Schule ist eine konfliktreiche Bühne mit einem großen Orchester, dessen Instrumente immer wieder neu gestimmt werden müssen, damit ein harmonisches Zusammenspiel entsteht.“ – So steht es im Foyer der Gemeinschaftsschule „Kulturanum“ in Jena. Musik spielt an der Staatlichen Gemeinschaftsschule „Kulturanum“ in Jena eine wichtige Rolle. Alle Lerngruppen sind nach Instrumenten benannt, fast alle altersgemischt: im Untergeschoss die Blasinstrumente (Jahrgänge 1-3), darüber die Schlaginstrumente (Jahrgänge 4-6), ganz oben die Streicher (Jahrgänge 7-9) und darüber die Tasteninstrumente. Wer die Schule in der Mittagspause besucht, hört die Schüler*innen auf ihren Instrumenten üben. Musikalisch-kulturelle Projekte prägen ab Jahrgangsstufe 4 maßgeblich das Schulprofil.

Festakt Jakob Muth Preis in Berlin am 25. September 2019; Fotograf: Thomas Kunsch

Die Schule nahm ihre Arbeit im Jahr 2012 zunächst mit einer Untergruppe (1.-3. Jahrgang) und einer Mittelgruppe (4.-6. Jahrgang) auf. Sie wollte von Anfang an eine „Schule für alle“ sein. In beiden Altersgruppen, auch Stammgruppen genannt, lernten vom ersten Tag an Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam. Geholfen hat das Selbstverständnis aller am Prozess Beteiligten. „Wir wollten eine Schule gestalten, in der alle Kinder entsprechend ihren individuellen Lernvoraussetzungen lernen können“, heißt es in der Bewerbung der Schule. Heute findet der Unterricht für alle Kinder von der ersten bis zur zwölften Klasse jahrgangsübergreifend statt. Eine Stammgruppe besteht immer aus Schülern*innen dreier Jahrgänge. Eine Ausnahme bildet Jahrgang 10. Hier werden die Schüler*innen auf unterschiedliche Schulabschlüsse und/oder den Übergang in die gymnasiale Oberstufe vorbereitet – auch hier findet also gemeinsames Lernen statt.

Die Schule An der Burgweide Hamburg – mit Selbstbestimmung zur Entfaltung

„Die Schule An der Burgweide ist die Wilhelmsburger Schule für alle Kinder“ – dieser Satz spiegelt das Selbstverständnis der inklusiven Schwerpunktgrundschule wider. Jedes schulpflichtige Kind aus der Umgebung ist willkommen. Die Schülerschaft und das Kollegium sind bunt gemischt. Schon bei einem ersten Gang über den Schulhof kann man hören, wie viele Kinder unterschiedlicher Kultur und Herkunft an der Schule lernen. Die rund 260 Schüler*innen sprechen aktuell 29 Muttersprachen. Derzeit gibt es zwei Basisklassen für Kinder, die noch nicht in der lateinischen Schrift alphabetisiert sind und eine internationale Vorbereitungsklasse für geflüchtete Kinder. Viele Kinder haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Seit dem Jahr 2010 findet in allen Lerngruppen inklusiver Unterricht statt. Besonders hervorzuheben ist die Teilnahme am Schulversuch „Sechsjährige Grundschule – Schulen gestalten Zukunft“ und der jahrgangsübergreifende Unterricht in den Klassen 1 bis 3 und 4 bis 6.

Festakt Jakob Muth Preis in Berlin am 25. September 2019; Fotograf: Thomas Kunsch

Der Schultag der Ganztagsschule gliedert sich in Blöcke, die gefüllt sind mit Projektunterricht, Lernbüros und Kursen. Die Mittagspause lässt dabei Raum für Essen und für Kurse. Im Projektunterricht werden fachübergreifend Themen aus Sachkunde, Geschichte, Religion, Gesellschaft und Technik behandelt. Dabei bearbeiten alle Lerngruppen der Jahrgangsstufe 1 bis 3 und der Jahrgangsstufe 4 bis 6 jeweils dasselbe Thema. Es wird besonders darauf geachtet, dass jedes Kind zu dem Thema Aufgaben erhält, die es gleichermaßen fördern und fordern. Hauptarbeitsform sind die Partner- und Gruppenarbeit, die in der Schule eine zentrale Rolle im Unterricht einnimmt. In der Bearbeitung der Themen wird den Kindern viel Freiheit zur eigenen Entfaltung gelassen.

Marie-Kahle-Gesamtschule Bonn – das Dalton-Prinzip als Kernstück

Jeden Morgen zu Beginn der 2. Stunde gibt es ein reges Treiben an der
Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn. Alle Schüler*innen sind auf der Suche nach einem geeigneten Lernraum für die kommende Stunde. Den Klassenraum können sie sich dabei nach Belieben aussuchen, ebenso wie die Lernform. Max wählt heute den Klassenraum, in dem sein Lieblingslehrer Herr Meier die Aufsicht führt. Der Pädagoge unterrichtet zwar kein Englisch, dennoch möchte Max heute seine Aufgaben bei ihm erledigen. Das ist kein Problem. Sollte Herr Meier ihm nicht helfen können, wendet sich Max einfach an die älteren Schüler*innen im Klassenraum, die das Thema vor kurzem selbst bearbeitet haben. Tina hingegen möchte bis morgen die Matheaufgaben erledigt haben und setzt sich daher in den Raum von Mathematik-Lehrerin Frau Blum. Die kann ihr die komplizierte Kurvendiskussion genau erklären.
Ursache für dieses scheinbare Durcheinander der Lernsituationen ist das Kernstück der Marie-Kahle-Schule: der sogenannte Dalton-Plan. Dabei handelt es sich um ein von der US-amerikanischen Reformpädagogin Helen Parkhurst entwickeltes Unterrichtskonzept, das sie in der Stadt Dalton in Massachusetts erstmals erprobte. Bei Dalton arbeiten die Schüler*innen autonom in ihrem eigenen Tempo und können den Raum, das Fach und die Lernpartner selbstständig auswählen. An der Marie-Kahle-Gesamtschule sind alle Beteiligten von diesem Konzept überzeugt – vor allem, weil es das inklusive Lernen unterstützt und begünstigt. Es funktioniert nur mit viel Teamarbeit, Ab- und Rücksprachen – alle fühlen sich allen Kindern und einander verpflichtet.

Festakt Jakob Muth Preis in Berlin am 25. September 2019; Fotograf: Thomas Kunsch

Die Marie-Kahle-Gesamtschule ist noch jung. Sie wurde erst im Jahre 2009 gegründet. Kurz nach Aufnahme des Schulbetriebs wurde die Inklusion im Schulprogramm fest verankert und umgesetzt. Vielfalt wird seither gezielt als Motor für Qualitätsentwicklung genutzt. Von derzeit rund 900 Schüler*innen haben 9 Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Treiber für den Inklusionsprozess ist die Zukunftswerkstatt „Sonderpädagogik“. Hier arbeiten die Schulleitung und die Sonderpädagogen*innen der Schule gemeinsam an neuen Ideen, um den Grundsatz der Schule – „Eine Schule für alle“ – immer weiter voran zu bringen.

Projekt ‘‘Herausspaziert‘‘ der Matthias-Claudius-Gesamtschule Bochum

Mut zu beweisen, Verantwortung zu übernehmen und Vertrauen zu entwickeln, das sind die Ziele des Projekts „Herausspaziert – erlebe Deine Fähigkeiten “ der
Matthias-Claudius-Gesamtschule in Bochum und damit konnte das Projekt in diesem Jahr den Publikumspreis erlangen. Seit dem Schuljahr 2017/18 ermöglicht es die Schule allen Schüler*innen der 8. Klassen, eine selbstgewählte Herausforderung zu bestehen. Nach intensiver Vorbereitungszeit haben sie im Anschluss an die Sommerferien drei Wochen Zeit, um ihr Abenteuer zu bestehen. Jeder Schüler hat ein Budget von 150,00 € für Reisekosten und Verpflegung zur Verfü­gung.
Die Schüler*innen begeben sich in Gruppen auf Wander- und Radtouren, nehmen sich ökologische, diakonische oder soziale Projekte vor, arbeiten auf dem Bauernhof oder schreiben ganze Romane. Sie lernen, sich selbst Ziele zu stecken, mutig zu sein, Risiken einzugehen, zu scheitern und wieder aufzustehen. Und das ganze natürlich inklusiv. Begleitet werden die Schülergruppen – ob mit oder ohne Handicap – während der Planung und der Durchführung von einem Erwachsenen, der diesen Prozess pädagogisch unterstützt und bei grenzwertigen Situationen kompetent einschreitet. Seine Hauptaufgabe liegt aber in größtmöglicher Zurückhaltung.

Festakt Jakob Muth Preis in Berlin am 25. September 2019; Fotograf: Thomas Kunsch

„Raus aus der Schule, rein ins Leben“, beschreibt Schulleiter Holger Jeppel die Idee von „Herausspaziert“. Es gehe darum, die Jugendlichen am Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein ernst zu nehmen, ihnen zu helfen, Vertrauen in sich selbst und andere zu entwickeln. Natürlich gehöre auch Mut dazu, sich mit der Gruppe einem Abenteuer zu stellen.
Mit fantastischen Preisträgern und einer wunderbaren Abschlussveranstaltung ging das 10. Jahr des Jakob Muth-Preises zu Ende. Auch die Vertreter der drei Projektträger des Preises, der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, Ute Erdsiek-Rave für die Deutsche UNESCO-Kommission und Jörg Dräger, im Vorstand der Bertelsmann Stiftung, zeigten sich sehr zufrieden mit der Veranstaltung und den Preisträgern – und sehen gleichzeitig, dass noch viel Entwicklung in Deutschland nötig ist. Jörg Dräger bringt es auf den Punkt: „Inklusion hilft, Leistung geradezu hervorzukitzeln – und trägt damit bei zu einem guten, gerechten und leistungsstarken Bildungssystem für alle Kinder.“ Einiges ist schon erreicht, vieles liegt noch vor uns – das Thema Inklusion wird uns weiter begleiten.
Was würdet ihr als nächstes im Themenbereich Inklusion verändern, wenn ihr könntet?

Die Videos der diesjährigen Preisträgerschulen findet ihr hier:
Friedenauer Gemeinschaftsschule Berlin
Staatliche Gemeinschaftsschule Kulturanum Jena
Schule An der Burgweide Hamburg
Marie-Kahle-Gesamtschule Bonn
Projekt ‘‘Herausspaziert‘‘ der Matthias-Claudius-Gesamtschule Bochum