Eine Antwort auf die Reportage „Sie sind doch erst fünf“ im Tagesspiegel vom 12.08.2012

Der Tagesspiegel hat unrecht. Selbst die jüngsten schulpflichtigen Kinder in Berlin sind mit der Einschulung mindestens 5 Jahre und 7 Monate – und nicht fünfeinhalb. Und nicht Mia und Freddy waren nicht schulreif (oder „schulfähig“, wie es in Berlin heißt) – sondern ihre Schulen waren nicht Mia- und Freddyreif. Weder Mia noch Freddy sind tatsächlich dort abgeholt worden, wo sie standen. Mit ihrem Alter und dem Einschulungsstichtag hat das allerdings nur bedingt zu tun.

Wann ist ein Kind schulreif?
Wann ist ein Kind schulreif?

Denn die Empörung um das Einschulungsalter in Berlin – schulpflichtig ist, wer innerhalb des laufenden Kalenderjahres sechs Jahre wird – lenkt von einer so fundamentalen wie banalen Tatsache ab: Vielfalt ist die Norm. Kinder entwickeln sich, insgesamt und in einzelnen Bereichen, höchst unterschiedlich, und nur weil sie gleich alt sind, können sie deshalb nicht dieselben Dinge gleich gut. In der Kita-Gruppe meiner Tochter sind zwei Kinder, die am selben Tag geboren sind, Leon und Leonie (sie heißen nur zufällig ähnlich!). Leon ist schon über 1,10m groß, sehr stark und spricht wenig. Leonie hat die Metergrenze noch nicht geknackt und plappert wie ein Wasserfall, mit höchst korrekten Nebensatzkonstruktionen. Beide liegen in ihrer Entwicklung jeweils im Normbereich – denn wie man aus den Langzeitstudien von Remo Largo sehen kann, ist die Spannbreite in der Entwicklung von Kindern sehr groß: die Norm ist dehnbar. Schon bei einem einzigen Kind kann das individuelle Entwicklungsalter in verschiedenen Bereichen (intraindividuell) fünf oder sechs Jahre umfassen: dasselbe Achtjährige kann ein motorisches Entwicklungsalter von 5 Jahren und im Lesen ein Entwicklungsalter von 10 Jahren haben. In einer gewöhnlichen altershomogenen Schulklasse sind drei Jahre (interindividueller) Entwicklungsunterschied normal. Beide – intra- wie interindividuelle Entwicklungsunterschiede – werden in herkömmlichen „alle lernen alles zur selben Zeit-Systemen“ gerne ignoriert – und die Stichtagregelung bedient dieses Fehlverständnis.
Bei Mia und Freddy haben darum meines Erachtens die Schulen versagt, nicht die Kinder. Was es braucht, ist daher keine neue Stichtagregelung und auch keine Debatte darüber. Vielmehr braucht es die Einsicht, dass man Kinder nicht über einen Kamm scheren kann, und ein Handeln, dass sich an dieser Erkenntnis orientiert. Und das bedeutet: Schule beginnt dann, wenn das Kind sie meistern kann. Das kann für Mia dann mit sechs Jahren und 8 Monaten sein. Und für die gleichaltrige Pia eben schon mit fünf Jahren und 8 Monaten. Und es muss auch nicht am 1. August sein – der erste Schultag darf auch im November sein. Oder Januar. Der Maßstab ist das Kind – nicht die Schule.
Helfen könnte dabei eine sorgfältige und dem Kind angemessene Diagnose, ob es für diesen Schritt schon bereit ist. Eine solche Schuleingangsdiagnose könnte innerhalb eines großen Zeitfensters (z.B. zwischen 4 und 7 Jahren) immer mal wieder durchgeführt werden, um der unterschiedlichen Entwicklung der Kinder gerecht zu werden.
Und vielleicht müsste eine solche Schuleingangsdiagnose ergänzt werden durch einen Schuleignungstest für die Schulen selber: welche Erwartungen haben sie an ihre Erstklässler, und wie gut sind sie darin, auf sie einzugehen? Wie gut setzen sie JÜL (= Jahrgangsübergreifendes Lernen) als die Chance um, jedem Kind wirklich die Zeit und die Möglichkeiten zu geben, die es braucht?
Dass sich etwas ändern muss, damit Kinder nicht solche Erfahrungen machen wie Mia und Freddy, ist klar. Zu glauben, es sei mit einem anderen Stichtag getan, hieße aber, eine Chance zu verschenken: die Chance, endlich einmal sorgfältig zu überlegen, was mit „Schulreife“ oder „Schulfähigkeit“ denn wirklich gemeint ist – und wie Kinder am besten in diesen Teil ihrer Bildungsbiographie starten können. Denn nicht die Kinder sind für die Schule da – sondern die Schule für die Kinder.
Weblink:
http://www.tagesspiegel.de/berlin/schule/erstklaessler-in-berlin-sie-sind-doch-erst-fuenf/6992080.html
Literatur:
Remo H. Largo, Martin Beglinger: Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen. 2010, Piper