Wenn die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in den kommenden Jahren in Deutschland in quantitativer Hinsicht umgesetzt werden soll, dann muss es in allen 16 Bundesländern darum gehen, die Exklusionsquote zu verringern. Nur wenn die Länder sich dem Ziel verpflichten, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die separierende Förderschulen besuchen, deutlich zu verringern, ist eine wesentliche Voraussetzung für eine rechtskonforme Umsetzung der UN-BRK gegeben. Im zweiten Teil seiner aktuellen Analyse, über die wir bereits hier berichtet haben, hat Klaus Klemm genau diese Voraussetzung in den Blick genommen.

Eine kurze Zusammenfassung vorab: Im ersten Teil seiner Analyse berichtet Klaus Klemm anhand aktueller schulstatistischer Daten über die Entwicklung in den Bundesländern hin zu einem inklusiven Schulsystem. Dabei fokussiert er vor allem auf die Veränderung der Exklusionsquoten als einem, wenn nicht dem zentralen Indikator in der Debatte darum, wie weit Deutschland in der Umsetzung der UN-Konvention vorangekommen ist. Die Exklusionsquote beziffert den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die in Förderschulen unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht (also der Schüler:innen der Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. in einzelnen Bundesländern 10 der allgemeinen Schulen und der Förderschulen). Ein Zeitvergleich zeigt, dass sich dieser Anteil in den Jahren von 2008/09 bis 2020/21 um rund 0,5 Prozentpunkte vermindert hat. Für Deutschland insgesamt lässt sich feststellen, dass das Land beim Abbau des ‚exklusiven‘ Unterrichtens in Förderschulen nur langsam voranschreitet – bei großen Unterschieden zwischen den Bundesländern.

So viel zum Blick in den Rückspiegel – doch was ist für die zukünftige Entwicklung in Sachen Inklusion zu erwarten? Gibt es Hinweise darauf, dass sich Deutschland insgesamt und die Länder im Einzelnen in den kommenden Jahren der Umsetzung der UN-BRK in quantitativer Hinsicht annehmen? Oder ist eine Ausweitung der schulischen Inklusion eher unwahrscheinlich? Klaus Klemm hat sich in seiner Analyse die von der Kultusministerkonferenz veröffentlichte ‚Vorausberechnung der Schüler:innen- und Absolvierendenzahlen 2020 bis 2035‘ (KMK 2021) angeschaut und leitet aus dieser Vorausschätzung der Schülerzahlen einen interessanten Rückschluss auf die erwartete Anzahl von Schüler:innen an Förderschulen ab. Aus dieser Prognose – so zeigt Klemm – lasse sich nämlich unter anderem ableiten, mit welchen Exklusionsquoten die einzelnen Bundesländer für die Jahre bis 2035 rechnen. Folgt man der KMK-Prognose, so werden in Deutschland 2035 von den insgesamt 8.143.451 Schülerinnen und Schülern der Primar- und der Sekundarstufe I 353.066 in Förderschulen, also ‚exklusiv‘ unterrichtet. Die gesamtdeutsche Exklusionsquote läge dann bei rund 4,3 Prozent (vgl. Tabelle 1):

 

Klaus Klemm legt hier den Finger in eine Wunde: Jenseits von Qualitätsfragen rund um einen guten gemeinsamen Unterricht als Kennzeichen für die gelungene Umsetzung der UN-BRK müssen wir auch im Hinblick auf die quantitative Entwicklung sehr kritisch hinschauen, inwiefern eine Annäherung an die Ziele der UN-BRK überhaupt wahrscheinlich ist. Nach Klemm´scher Lesart wird jedenfalls nur wenig passieren: Wenn sich die Schülerzahlenvorausberechnung der KMK (2021) in den kommenden Jahren als realistisch erweist, dann würde dies zugleich bedeuten, dass die deutschlandweite Exklusionsquote über die kommenden 15 Jahre bei rund 4,3 Prozent stagniert. Damit bleibt Deutschland von der Umsetzung der UN-BRK unverändert weit entfernt. Im Gegenteil: Es sei nochmal daran erinnert, dass diese Quote in den vergangenen 12 Jahren (wenn auch sehr langsam) zurückgegangen ist. Dieser Trend würde sich nicht fortsetzen – wenn nicht aktiv gegengesteuert wird. Dies gilt insbesondere für die aktuellen Länderprognosen in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Wenn hier die Schülerzahlprognosen so eintreffen, wie sie laut KMK-Statistik erwartet werden, würde dies in diesen Ländern bis zum Schuljahr 2035/36 zu – unterschiedlich stark – steigenden Exklusionsquoten führen. Demgegenüber lassen die Schülerzahlprognosen z. B. in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein, in Ländern, die schon heute niedrigere Exklusionsquoten aufweisen, erwarten, dass der Weg zu mehr Inklusion in den kommenden Jahren bei ihnen fortgesetzt werden wird.

Anders formuliert: Auch in 15 Jahren wird es noch vom Wohnort abhängen, ob in Deutschland „Menschen mit Behinderungen aufgrund von Behinderungen“ eine Förderschule oder eine allgemeine Schule besuchen können – und wir sprechen hier zunächst nur von der quantitativen Dimension eines inklusiven Systems. Natürlich lässt sich trefflich darüber diskutieren, ob der Ausbau des gemeinsamen Lernens in quantitativer Hinsicht Sinn macht, wenn dabei die Qualität nicht gesichert ist. Selbstverständlich ist dies Grundvoraussetzung für die flächendeckende Umsetzung des gemeinsamen Lernens und zentraler Auftrag an die Bildungsadministration. Die von Klemm vorgestellte Analyse fokussiert allerdings auf etwas anderes: Deutschland hat sich vor nunmehr 12 Jahren verpflichtet, die Ziele der UN-BRK umzusetzen. Angesichts der vorliegenden Daten sind die Bundesländer dieser Verpflichtung bislang in sehr unterschiedlichem Maße nachgekommen – und die Schülerzahlenvorausberechnung legt nahe, mit welcher Entwicklung sie für die Zukunft rechnen (oder auch nicht). Dieser Lesart zur Folge ist eines sicher: Ohne ein konsequentes Gegensteuern, ohne ein klares Bekenntnis zu einem inklusiven Schulsystem wird Deutschland insgesamt auf dem Weg zum Gemeinsamen Lernen nicht vorankommen und am aktuellen Flickenteppich der Länder wird sich nichts ändern. Das müsste es aber, wenn wir uns nicht langfristig von der vereinbarten Zielsetzung der UN-Konvention verabschieden wollen.  Klemm fordert hier eine offene, ehrliche Debatte – es ist an der Zeit, dass Inklusion (wieder) ein Thema wird!

Hier finden Sie die komplette Studie „Inklusion in Deutschlands Schulen: Eine bildungsstatistische Momentaufnahme 2020 / 21“ zum Download.

 

Quellen:
KMK (2021). Vorausberechnung der Zahl der Schüler/-innen und Absolvierenden 2020 bis 2035. Berlin