Was ist nicht schon alles über diese Schule gesagt und geschrieben worden! In 2006 wurde sie mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet, vom Hamburger Bildungsjournalisten und Filmemacher Reinhard Kahl auf Zelluloid gebannt, von der Schulinspektion in fast allen Qualitätsbereichen als „stark“  bewertet. Als selbst verantwortete Schule, Club of Rome-Schule, „Blick über den Zaun“-Schule und Ganztagsschule wendet sie das langjährig geplante Konzept der „Neuen MBS“ seit nunmehr sechs Jahren erfolgreich an. Wir haben einen Blick hinter die Kulissen geworfen und nachgehakt: Wie wurde aus einer ganz gewöhnlichen Schule eine „Leuchtturmschule“? Wie schafft sie es, dieses Niveau zu halten und die Qualität zu sichern? Und: Wie können andere Schulen von diesen Erfahrungen profitieren?

Lernbüros: Arbeit mit Kompetenzrastern © Veit Mette, Bielefeld
Lernbüros: Arbeit mit Kompetenzrastern © Veit Mette, Bielefeld

Die Neue Max-Brauer Schule im Mai 2011… Vogelgezwitscher, Kinderlachen auf dem Schulhof, sonnendurchflutete Klassenzimmer. Wir besuchen am Montagmorgen das Lernbüro in der Klasse 6e. Im Lernbüro werden die Basiskompetenzen in den drei Kernfächern Deutsch, Mathematik und Englisch erworben. Phasen, in denen die Lehrperson im Mittelpunkt steht – zum Beispiel bei der Einführung eines neuen  Themas – und Phasen offenen Unterrichts, der Teamarbeit und des selbstständigen Lernens wechseln sich ab. In unserer Besuchsstunde arbeiten die Schüler sehr selbstständig für sich an unterschiedlichen Aufgaben. Alle, bis auf eine Gruppe von vier Jungen, die sich am „Runden Tisch“ den Kompetenzbereich A 2.2 im Fach Mathematik (Schätzen und Messen von Längen und Flächen) erarbeitet und u. a. maßstabsgerechte Zeichnungen von ihren Kinderzimmern anfertigt. Swantje Albrecht, die Klassenlehrerin, flitzt barfüßig von Tisch zu Tisch, um die Schülerinnen und Schüler bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Ihre Rolle ist jetzt die der Beraterin und Lernbegleiterin. Albrecht wirkt konzentriert, hat alle Aktivitäten in der Klasse im Blick und geht flexibel auf Fragen und Anliegen der Lernenden ein. Diese arbeiten an den Zielen, die sie im Wochenplan festgehalten haben. Ihr Lernprozess wird durch Kompetenzraster und Checklisten unterstützt: Jeder Schüler hat für jeden Bereich ein persönliches Arbeitsexemplar der Kompetenzraster, auf dem seine Lernausgangsposition und sein derzeitiger Lernstand mit Klebepunkten gekennzeichnet ist. Die Checklisten erläutern die Kompetenzen, geben Teilkompetenzen an und enthalten Hinweise auf passende Übungen und Materialien.
Klare Regeln und Rituale, © Veit Mette, Bielefeld
Klare Regeln und Rituale, © Veit Mette, Bielefeld

Natürlich kommt es auch bei dieser Arbeitsweise gelegentlich zu Störungen, z. B. durch Kinder mit Bewegungsdrang, denen es schwer fällt, auf ihrem Platz sitzen zu bleiben oder sich still zu verhalten. Frau Albrecht bedient sich in diesen Situationen klarer Regeln und Rituale. Nach der Eröffnungs- und Orientierungsphase heißt es bspw.: „Alle haben sich organisiert; ab jetzt wird nur noch geflüstert“. Smilies an der Tafel illustrieren den aktuellen Lärmstand in der Klasse. Dadurch, dass schnell auf Störungen reagiert wird, bleibt viel aktive Lernzeit.
Projektunterricht an der MBS © Veit Mette, Bielefeld
Projektunterricht an der MBS © Veit Mette, Bielefeld

Die Parallelklasse nebenan hat Projektunterricht. Bei unserem Besuch arbeiten die Kinder am Thema „Orientierung auf der Erde: Das Land meiner Wahl“. Sechs Blöcke á 90 Minuten in der Woche sind für das Lernen in Projekten vorgesehen. Dabei fließen die Inhalte und die Unterrichtsstunden der Fächer Naturwissenschaft, Gesellschaft, Religion und anteilig Arbeitslehre, Bildende Kunst, Musik, Deutsch und Mathematik in den Projektunterricht ein. In jedem Schuljahr können so sechs sechswöchige fächerübergreifende (epochale) und handlungsorientierte Projekte durchgeführt werden. Im Unterschied zum Lernbüro arbeiten die Schüler gemeinsam in Gruppen an einem Produkt, das sie vor den Mitschülern und je nach Gelegenheit auch der Elternschaft präsentieren. Sie lernen zusammenzuarbeiten, eigene Schwerpunkte zu setzen und erwerben auf diese Art und Weise Basiswissen zu gesellschaftlich relevanten Themen.
Werkstattunterricht sehen wir an diesem Tag leider nicht, da es sich aber um den dritten wichtigen Bereich des Unterrichts handelt, soll er an dieser Stelle kurz erwähnt werden: In den Werkstätten geht es um „interessengeleitetes, vorwiegend praxisorientiertes und forschendes Lernen und Arbeiten.“ In der Jahrgangsstufe 6 gibt es vier verschiedene zweistündige Werkstätten – einige davon verpflichtend (Computergrundkenntnisse, Musik, Kunst, Sport, Arbeitslehre), andere können frei nach Interesse gewählt werden (z. B. Forscherlabor, Bläserensemble, Webdesign, kreatives Schreiben). Die über 70 Werkstätten werden nicht nur von Lehrkräften, sondern auch von außerschulischen Experten oder Schülern angeboten. Am Ende werden die entstandenen Produkte ausgestellt und der Schulöffentlichkeit präsentiert.
Nach dem Unterricht treffen wir uns mit der Schulleiterin, Barbara Riekmann. Obwohl eigentlich schon in pädagogischer Mission auf dem Sprung nach Wolfsburg, nimmt sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns. Sie beschreibt, welche Schritte nötig waren, um die MBS zu dem zu machen, was sie heute ist: Ausgangspunkt war die Unzufriedenheit mit den ersten PISA-Ergebnissen und der daraus resultierende Wunsch, die Schule schülergerechter und leistungsstärker zu machen. Mit fünf älteren und fünf jüngeren Lehrkräften (der sog. „Traumgruppe“) hat sich Riekmann vor gut zehn Jahren auf den Weg gemacht, ihre Schule neu zu denken. Eine sehr frühe Erkenntnis war, dass Formen der äußeren Differenzierung nicht ausreichend sind, um mit der wachsenden Heterogenität der Schüler konstruktiv umzugehen. Die Traumgruppe entwickelte darum das Konzept eines „individualisierten, projektorientierten und interessengeleiteten Lernens in neuen Zeitstrukturen“ – welches zunächst in den Fachgruppen Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften und Künste vom Kollegium aufgegriffen wurde. Für das Lernbüro, den Projektunterricht und die Werkstätten musste anschließend das Konzept ausgearbeitet und die Kompetenzraster, Checklisten und Materialien entwickelt werden. Riekmann betont, dass es sich um einen mehrjährigen, komplexen Entwicklungsprozess handelt, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Sie berichtet auch, dass Teile des Kollegiums die radikale Veränderung der Unterrichtskultur anfangs mit Skepsis betrachtet haben. Durchsetzen konnte sich das Konzept nur, weil die Bedenken und Kritikpunkte ernst genommen, die Fachkollegien in die Entwicklung einbezogen wurden und so tragfähige Strukturen geschaffen und erprobt werden konnten.
Natalie Ross, Säulenheilige © Veit Mette, Bielefeld
Natalie Ross, Säulenheilige © Veit Mette, Bielefeld

Wie wichtig kollegiale Zusammenarbeit für den Schulentwicklungsprozess und den Lernerfolg der Schüler ist, betont auch Natalie Ross. Als eine der „Säulenheiligen“ der MBS hat sie das Konzept für die Säule „Mathematik“ maßgeblich mit gestaltet. Damit alle Lehrkräfte sich mit den neuen Lernformen vertraut machen können, treffen sich die Fachteams alle sechs Wochen zu einer schulinternen Lehrerfortbildung. Hier werden z. B. neu entwickelte Materialien vorgestellt, ggf. weiter angepasst und überarbeitet. Zudem gibt es pro Woche zwei Stunden Koordinationszeit für die Jahrgangsteams: In den Jahrgangsteams kooperieren sechs bis neun Lehrkräfte, die nach Möglichkeit alle Fächer abdecken. Sie sind für die Unterricht und die Betreuung eines Jahrgangs verantwortlich. Auch bedingt durch den Ganztagsschulbetrieb sind die Lehrkräfte zeitlich sehr stark eingespannt. Entlastung wird dadurch geschaffen, dass es pro Lehrkraft wenige, feste Lerngruppen gibt, Kompetenzen gebündelt werden (gemeinsame Unterrichtsplanung) und generell eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Zufriedenheit herrschen.
Kooperiert wird auch mit anderen Schulen und außerschulischen Einrichtungen sowie Betrieben. So beteiligt sich die Max-Brauer Schule am Hamburger Netzwerk der Hospitationsschulen und unterstützt andere Schulen bei der Entwicklung einer neuen Unterrichtskultur.
Fazit: Auch eine Max-Brauer Schule kann und will sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. Es gilt, die Schule immer weiter zu entwickeln, die Qualität zu sichern und dafür Sorge zu tragen, dass das Systemwissen erhalten bleibt, z. B. wenn Wissensträger die Schule verlassen und dafür neue KollegInnen hinzukommen. Gerne gibt die Max-Brauer Schule ihr Know-How an andere Schulen weiter. Der Transfer von Konzepten, Instrumenten und Methoden an andere Schulen lässt sich aber nicht eins zu eins bewerkstelligen. Selbst Kompetenzraster müssen vor dem Hintergrund der Besonderheiten der eigenen Schülerschaft und des schulinternen Curriculums reflektiert und ggf. angepasst werden. Ein Adaptationsprozess, der viel mehr noch als das Aufgreifen von Inhalten, Instrumenten oder Methoden die Bereitschaft von Lehrkräften, Schülern und Eltern erfordert, sich auf diese neue Lernkultur auch wirklich einzulassen.
Video aus „Wir können auch anders“ von Reinhard Kahl, Archiv der Zukunft:

Links:
Website der Max-Brauer-Schule: www.maxbrauerschule.de
Beispiele aus der Neuen Max-Brauer Schule: http://www.maxbrauerschule.de/mbs/downloads/2008_neue_mbs_bsp.pdf
Inspektionsbericht: http://www.maxbrauerschule.de/mbs/downloads/2009-02-22_schulinspektionsbericht.pdf
Literatur:
Riekmann / Dammann: Schulen auf dem Weg zum individualisierten Lernen – das Beispiel der Max-Brauer-Schule Hamburg. In: Bartz u.a.: Praxiswissen SchulLeitung AL 25, 2011
Riekmann, B.: Lernen mit Profil. In: PädF 6|2010