Lernen fürs Leben an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum

Wer Friederike und Miriam nach ihrem Lieblingsfach fragt, der bekommt eine unerwartete Antwort: Herausforderung. Herausforderung ist in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) ein ganz normales Schulfach, genau wie Verantwortung. Herausforderung als Unterrichtsfach heißt, dass die Schüler jedes Jahr für drei Wochen unterwegs sind, allein oder in kleinen Gruppen. In dieser Zeit gilt es, eine persönliche Herausforderung zu meistern. Selbst gewählt und irgendwo außerhalb von Berlin.

Schüler der ESBZ
Schüler der ESBZ

150 Euro stehen jedem zur Verfügung. Geld, von dem die Jugendlichen alles bezahlen müssen: Anreise, Essen und Unterkunft. Letztes Jahr war Friederike mit einigen Freundinnen in Schleswig-Holstein unterwegs, per Rad. Dort haben sie an Schulen Klima-Projekte vorgestellt, ein Thema, das gut in das Selbstverständnis ihrer eigenen Schule passt. Die ESBZ ist nämlich Agenda-21-Schule. Mit ihrem Geld sind die Schülerinnen gut ausgekommen. Jede von ihnen hatte sogar noch 60 Euro übrig. Dieses Jahr wollen die Mädchen auf einen Bauernhof nach Frankreich und dort arbeiten, um Essen und Unterkunft zu verdienen. Ein Kontakt nach Hause ist nicht vorgesehen. Allerdings gibt es ein Nottelefon für besorgte Mütter und Väter. Angst haben die Eltern aber eigentlich immer nur im ersten Jahr. Danach wissen sie, dass ihre Kinder stärker zurückkommen, als sie gefahren sind. Und sie wissen, welche Chancen die Herausforderungen ihren Kindern bieten.

 

 
Schule irgendwie anders…

Herausforderung und Verantwortung als Schulfächer – das sind nur zwei von vielen Dingen, die „anders“ sind an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Anders ist zum Beispiel auch, dass Friederike und Miriam zwar in der 8. Klasse sind, ihre Klassenkameraden aber sowohl zur 7. als auch zur 9. Jahrgangsstufe gehören. Die einfache Erklärung: Der Unterricht in den drei Klassenstufen findet jahrgangsübergreifend statt. Jede Klasse hat zwei Klassenlehrer, und jeder Klassenlehrer ist Tutor für 13 Schüler. Das ist möglich, weil die ESBZ eine Gemeinschaftsschule ist. Als solche hat sie sich entschlossen, ihre Ressourcen für äußere Differenzierung in die Lehrerstunden zu stecken. Äußere Differenzierung gibt es nicht. Im Vordergrund stehen stattdessen individuelle Förderung und die Vermittlung von Werten – wie zum Beispiel Verantwortung, Solidarität, Wertschätzung und Anerkennung.

Je drei Klassen bilden eine „Schule in der Schule“. Ihre Lehrer arbeiten als Kleinteam zusammen. Wenn Friederike und Miriam morgens in die Schule kommen, erwartet sie daher nicht ein Stundenplan nach Stundentafel. Statt einer Doppelstunde Mathe oder 45 Minuten Latein beginnt jeder Tag mit zwei Stunden Lernbüro. Lernbüros gibt es für Deutsch, Mathe, Englisch sowie Natur & Gesellschaft. Jedes Lernbüro besteht aus einzelnen Bausteinen. Sie müssen irgendwann im Laufe der 7. bis 9. Jahrgangsstufe bearbeitet werden. Eine festgelegte Reihenfolge gibt es nicht. Bildet ein Baustein aber die Grundlage für einen anderen, wird er zuerst bearbeitet.
Lernen, Stein für Stein
Wer nun mit einem neuen Baustein beginnt, bespricht dies zunächst mit dem zuständigen Lernbürolehrer. Bei Bedarf gibt es eine Einführung. Sind einzelne Kompetenzen schon vorhanden, können Arbeitsaufträge auch ausgelassen werden.

Unterricht mit "Lesekisten" an der ESBZ
Unterricht mit „Lesekisten“ an der ESBZ

Jeder Schüler arbeitet in seinem eigenen Tempo. Die Bausteine sind so konzipiert, dass sie genug Freiraum lassen, um auch eigene Interessen zu verfolgen. Für den Baustein „Deutsch 7 – Inhaltsangabe“ lesen zum Beispiel nicht alle Schüler denselben Roman. Jeder sucht sich zunächst den Roman aus, mit dem er sich gern beschäftigen möchte. Danach legen die Schüler „Lesekisten“ an. Darin sammeln sie Gegenstände, die in irgendeiner Form zu ihrem Roman in Beziehung stehen. Die letzte Aufgabe besteht schließlich in einer Art Begleitbuch, in dem die Ergebnisse der Romanbearbeitung zusammengefasst werden. Das Buch wird neben dem Lernbürolehrer und dem Tutor auch den eigenen Eltern vorgelegt, die dem Schüler dann ein persönliches Feedback dazu geben. Das beinhaltet auch eine Rückmeldung dazu, wie und mit welchem Einsatz die Schüler vorgegangen sind.
In den Bausteinen geht es also nicht darum, vorgegebenen Stoff abzuarbeiten. Die Schüler müssen sich Inhalte und Arbeitswege selbst entwickeln. Wer glaubt, dass er fit genug ist, der macht am Ende eines Bausteines einen Test – oder er überlegt sich eine andere Möglichkeit, wie er zeigen kann, dass er das Thema beherrscht. Sind die Schüler erfolgreich, erhalten sie ein Zertifikat. Das allerdings ist ohne Noten, denn die gibt es erst ab Klasse 9.
Individuell im Verbund
Die Lernbüro-Fächer sind (fast) die einzigen „klassischen“ Schulfächer an der ESBZ. Steht bei ihnen die individuelle Arbeit und Organisation im Vordergrund, geht es im Rahmen der Projektarbeit, der Werkstätten sowie auch der Klassenlehrerstunden um das Gemeinsame und das „Eingebundensein“. Die sechs Stunden Projektarbeit pro Woche haben zum Beispiel drei Schwerpunkte: Lernen in Zusammenhängen, Lernen im Team und Lernen im Leben. Über mehrere Wochen arbeiten die Schüler im Klassenverband an einem fächerübergreifenden Thema. Das geschieht auch an außerschulischen Lernorten und in Zusammenarbeit mit außerschulischen Experten. Miriam und Friederike haben mit ihrer Klasse gerade erst das Projekt „Stadtführer“ abgeschlossen. Das Ergebnis waren verschiedensprachige Audio-Guides für Berlin. Sie helfen Gastschülern, ihre „neue“ Stadt leichter und besser kennenzulernen.
Täglich vor dem Mittagessen finden die sogenannten Klassenstunden statt. In deren Mittelpunkt stehen gemeinsames Lernen und der Aufbau von Beziehungen. Individueller wird es dann wieder innerhalb der Werkstätten, die mit vier Stunden pro Woche angesetzt sind. Hier geht es um Lernen nach Neigung und Interesse sowie um praxisorientiertes und forschendes Lernen. Die Lernbereiche sind vielfältig. Sie beinhalten unter anderem musisches/künstlerisches Lernen, Bewegung, Forschen, Weltreligionen, Agenda 21, Fördern und Fordern usw.
Lob-Kultur in Schule
Arbeitsinhalte und Fortschritte einer Woche werden von den Schülern in einem eigenen „Logbuch“ festgehalten. Darin steht, was genau sie gemacht haben, woran sie noch arbeiten wollen und auf welche Erfolge sie besonders stolz sind bzw. was ihnen gut gelungen ist. Die Logbücher sind Grundlage für die wöchentlichen Tutorengespräche. Darin geht es ebenso um das fachliche Fortkommen wie auch um die persönliche Situation jedes Einzelnen – wie es ihm geht: mit sich selbst, mit der Klasse, mit der Schule und mit der Welt.
Dass jeder Schüler auch wirklich wahrgenommen und wertgeschätzt wird, ist an der ESBZ wichtig. Das zeigt sich besonders im Rahmen der Schulversammlungen, die an drei Freitagen im Monat stattfinden, oder im Gottesdienst, den die Schüler und Lehrer jeden vierten Freitag feiern. Beide Veranstaltungen sind Orte des individuellen, aber für alle sichtbar gemachten Lobes. Besondere Leistungen und außergewöhnliche Anstrengungen können hier von allen gesehen und gewürdigt werden. Friederike und Miriam schätzen diese Kultur des Lobens, weil, so sagen sie, nichts so sehr motiviert, weiterzumachen, wie das Gefühl, gesehen zu werden. Und zwar gleichgültig, ob jemand deshalb gesehen wird, weil er einer anderen beim Lernen geholfen hat, weil er einen schwierigen Baustein geschafft hat, oder weil er die Schule erfolgreich nach außen vertreten hat. Genau das, so sagen Frederike und Miriam, ist der Grund, warum sie gern weitermachen und stolz sind – auf sich und ihre Schule.
Die wichtigsten Daten und Zahlen zur Schule auf einen Blick: Daten und Fakten ESBZ