Juni 2020 – seit März sind die Schulen wegen des Corona-Virus geschlossen, ein großer Teil des Unterrichts findet auf Distanz statt. Die Umsetzung ist von Schule zu Schule extrem verschieden. Was sich aber abzeichnet: Ein immer noch an vielen Schulen in Deutschland präsentes Konzept, die 7G, erweisen sich vor diesem Hintergrund als besonders untauglich:

„Alle gleichaltrigen Schüler haben zum gleichen Zeitpunkt beim gleichen Lehrer im gleichen Raum mit den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut zu erreichen.“
(Helmke 2013:36)
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In diesen Zeiten – Corona mit Unterricht aus der Distanz, mit Digitalisierung und wenig Präsenz – erweist sich dieses – ohnehin zum Scheitern verurteilte – Prinzip als besonders untauglich. Die Tabelle unten zeigt auf, was derzeit mit den 7G passiert (Tabelle auch zum Download hier). Natürlich gilt gleichzeitig, dass die 7G in vielen guten Schulen längst nicht mehr praktiziert werden, sondern viele Aspekte (z. B. jahrgangsübergreifendes Lernen und flexible grouping, Arbeiten im individuellen Tempo, Team teaching, vorbereitete Umgebungen, Projektlernen, individuelle Lernziele und Herausforderungen) dort an der Tagesordnung sind, so etwa an der Kettelerschule, die Christina Lang-Winter leitet, die 2013 den Jakob Muth-Preis und 2019 den Deutschen Schulpreis erhalten hat, ebenso wie an den weiteren Preisträgerschulen des Schulpreises und des Jakob Muth-Preises.
Nichtsdestotrotz ist dieses eine nützliche Gedankenübung, die ein gängiges Bild von Schule auf den Prüfstand stellt – gerade vor dem Hintergrund, dass die tatsächlichen Bilder in der Presse derzeit häufig leere Klassenzimmer zeigen, mit auf ein Lehrerpult ausgerichteten Tischen in Reihen. Die Tabelle entfaltet deshalb einmal die Problematik der 7G, die sie, völlig unabhängig von Corona, in sich tragen, die Herausforderungen, die sich spezifisch für jedes der 7G durch Corona und damit den Wegfall des Ortes Schule ergeben, und die Beobachtungen und Fragen, die sich in der Kombination dieser grundsätzlichen Problematik gepaart mit den Corona-Herausforderungen ergeben.
Im Anschluss formulieren wir den Gegenentwurf zu den 7G – „Schule für Alle“.

7G Problematik & Umsetzung Prä-Corona Herausforderungen durch Corona Beobachtungen & Fragen
Gleichaltrige Schüler*innen Schulklassen/ Lerngruppen sind selbst in jahrgangsreinen Klassen weder faktisch noch vom Lernstand her gleich alt. In einer „normalen“ Lerngruppe beträgt die Spanne des Entwicklungsalters etwa 3-4 Jahre (vgl. Remo Largo, Schülerjahre). Aus diversen Gründen ist die Alterspanne in einer vermeintlich altershomogenen Lerngruppe (z.B. 3. Klasse) ebenfalls häufig 3-4 Jahre. Durch Corona fällt die Klasse als physischer Ort und als Gemeinschaft weg. Selbst bei Schulöffnungen sind die Gruppen anders und i.d.R. kleiner. Die vorher schon bekannten Unterschiede zeigen sich im Homeschooling auf besondere Weise – die Unterschiede in kognitiver und emotionaler Reife, Selbstorganisation, Konzentrationsfähigkeit etc. fallen stärker ins Gewicht. – Wie sinnvoll ist biologisches Alter als dominantes Ordnungskriterium zur Lerngruppenbildung?
– Wie können flexible (Arbeits-)gruppen gebildet werden, die die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder am besten unterstützen?
– Welche Gruppen regen Kinder tatsächlich an, Lernen zu begünstigen und sich in ihnen tatsächlich zu unterstützen?
Gleicher Zeitpunkt Kinder und Jugendliche lernen auf unterschiedliche Art und Weise. Insbesondere bei Instruktionen, die zum selben Zeitpunkt allen gleichzeitig gegeben werden, spielen weder der individuelle Lernstand, noch z.B. die Aufnahmebereitschaft eine Rolle Mit dem Homeschooling löst sich derselbe Zeitpunkt in Luft auf: Kinder und Jugendliche arbeiten weitgehend in ihrem eigenen Tempo, meist innerhalb eines groben gesteckten, individuell ausgestalteten Zeitrahmens (Wochenplan, Abgabetermine) zu unterschiedlichen Arbeitszeiten – Wie können Kinder und Jugendliche im eigenen Tempo und nach eigenem Rhythmus sowohl zuhause als auch im Präsenzunterricht lernen? Welche Unterstützung brauchen sie?
– Welche pädagogische Rolle kommt Präsenzphasen zu und wie können sie pädagogisch klug gestaltet werden?
– Wieviel Asynchronität ist wünschenswert und zu welchem pädagogischem Zweck?
Gleiche Lehrkraft Alle Schüler*innen einer Lerngruppe werden zeitgleich von derselben Lehrkraft unterrichtet Abhängig von technischen Möglichkeiten findet Lernen gar nicht mehr lehrkraftgeleitet statt; es stellt ggf. dieselbe Lehrkraft die Aufgaben, das ist aber nicht notwendig die Lehrkraft, die online oder im Präsenzunterricht unterrichtet oder zur Ansprache zur Verfügung steht. Gelegentlich wechseln im Präsenzunterricht aus Kapazitätsgründen die Lehrkräfte innerhalb einer Lerneinheit, so dass nicht immer auf gewachsene, lernförderliche Beziehungen zurückgegriffen werden kann. – Welche Lehrkräfte brauchen Kinder und Jugendliche? Wie können Beziehungen auch über Distanz gestaltet werden?
– Wie kann Team teaching, gemeinsames Unterrichten und Abstimmung Kindern & Jugendlichen besser gerecht werden?
– Wie können Risikopatient*innen unter den Lehrkräften von zuhause aus arbeiten? Wie wird sichergestellt, dass sie Teil des Teams sind und bleiben?
Gleicher Raum Alle Schüler*innen einer Lerngruppe sitzen gemeinsam in einem Raum. Im Homeschooling sind alle Schüler*innen zuhause und arbeiten von dort. Im Präsenzunterricht sind die Klassen in 2-3 Lerngruppen geteilt. – Wo findet Lernen statt?
– Welche Rolle spielen gemeinsame Orte, physisch oder digital?
Gleiche Mittel Alle Schüler*innen arbeiten mit den gleichen Arbeitsmitteln Im Homeschooling differieren die Arbeitsmittel nach Verfügbarkeit – zwar werden häufig theoretisch dieselben Materialien zur Verfügung gestellt (z.B. Arbeitsblätter oder Zugänge zu Online-Tools, etc.), sowohl die Hard- als auch die Software und die Umgebungsvoraussetzungen unterscheiden sich aber je nach Ausstattung des Elternhauses – Was braucht welches Kind/ welche/r Jugendliche, um deeper learning zu erreichen?
– Welche Methoden, Mittel, Arbeitsweisen sind hilfreich?
– Wie können diverse Mittel bei ungleichen (häuslichen) Voraussetzungen eingesetzt werden?
– Was braucht es, um der digitalen Chancenungleichheit entgegenzuwirken?
Alle Schüler*innen sollen dasselbe Ziel erreichen, unabhängig von Lernstand, Interesse, Neigung oder Notwendigkeit Corona zeigt, dass einerseits die Zielgleichheit in großen Teilen bestehen bleibt, indem Material und Aufgaben vergeben werden, die zielgleiches Lernen oft (nicht immer) fördern. Individuelle Herausforderungen oder Zielsetzungen, obwohl sie eine größere Rolle spielen, weil die Ungleichheit der Voraussetzungen steigt, bleiben tendenziell unbeachtet (z.B. Erledigen gleicher Arbeitsblätter trotz fortgeschrittenen Lernstands, Nicht-weiter-arbeiten-Dürfen, um nicht über das Klassenziel hinauszuschießen; in das nächste Thema einsteigen müssen, obwohl das vorige noch nicht sicher beherrscht wird) – Wie können Lehrkräfte individuelle Zielsetzungen für Kinder gemäß ihres Lernstandes und ihren Herausforderungen machen?
– Welche Rolle sollen Rahmenlehrpläne und (schulinterne) Curricula künftig spielen?
– Wie wichtig sind vergleichbare Ziele?
Gleich gut Alle Schüler*innen sollen das Erlernte gleich gut können, ebenfalls unabhängig von der vorherigen Lernausgangslage etc. Die Überprüfung erfolgt über summatives Assessment Die Überprüfung des Gelernten wird schwierig – häufig kann nur schwer beurteilt werden, wieviel Eigenleistung in den abgegebenen Aufgaben steckt; Feedback entfällt häufig oder bleibt vage. Zusammen mit individuellen Zielsetzungen fehlen auch formative Assessments. – Was bedeutet „gleich gut“?
– Mit welchen Zielsetzungen sollen Bewertungen künftig verknüpft sein und wie sollen sie aussehen, um diesen Zielsetzungen gerecht zu werden?

Die Fragen machen lediglich den Anfang: Jede Schule, mit ihrer ganz besonderen Mischung aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Elternschaft, Lage, Traditionen, pädagogischen und didaktischen Glaubenssätzen muss sich ihnen und weiteren, die sich aus ihrem Profil ergeben, stellen. Sie gehen in ihrer Tragweite über Corona hinaus und können als Basis dienen, um zu hinterfragen, was Schule künftig sein möchte. Corona hat uns deutlich vor Augen geführt, dass die 7G nicht tragfähig sind, um Lernen voranzubringen – und dass unsere Kinder etwas anderes brauchen, um die Welt gestalten zu können. Wir brauchen ein anderes Lernen, eine andere Schule.
Eine „Schule für Alle“, die es jedem jungen Menschen ermöglicht,

  • seinen individuellen nächsten Entwicklungsschritt zu gehen, und zwar
  • in seinem eigenen Tempo und Rhythmus
  • in Beziehung und Beziehungen zu
    • anderen jungen Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Interessen, Stärken und Herausforderungen
    • Erwachsenen in unterschiedlichsten Rollen, die im engen und systematischen Austausch miteinander stehen (Lehrkräfte, Erzieher*innen, Therapeut*innen, Expert*innen aus allen Richtungen, Eltern…)
  • an unterschiedlichsten Orten
    • in Schule, die ein anregender, spannender, lebendiger Ort ist und allen Lernenden umfänglich zur Verfügung steht
    • zuhause, unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebenswelt und -umstände
    • an einer Vielzahl anderer Orte, die Selbstwirksamkeit, Mastery und gemeinsames Erleben in den verschiedensten Kontexten ermöglichen (Natur, Theater, Arbeitswelt, öffentlicher Raum, …)
  • mit einer Vielzahl an Methoden, die genau diesen jungen Menschen, ggf. in seiner Gruppe und in seinem Umfeld, aktivieren, anregen und neugierig machen und auf Deeper Learning ausgerichtet sind
    • mit unterschiedlichsten, alle Sinne ansprechenden Materialien und kreativen Methoden im Analogen
    • mit aktivierenden, interaktiven, individualisierten digitalen Angeboten und Tools,

die zusammen und im wechselseitigen Spiel selbstverantwortliches, selbstwirksames, handlungsorientiertes interessengeleitetes Lernen alleine und in der – oder den – Gruppen ermöglichen.

  • Themen sind fachübergreifend in Projekten organisiert, die systematisch unterschiedlichste Aspekte und Herangehensweisen ermöglichen und behandeln.
  • Zum Gestalten des eigenen Lernens gehört, dass Kinder und Jugendliche regelmäßig miteinander und mit Erwachsenen über ihre Lernfortschritte sprechen, sie dokumentieren und gemeinsam den nächsten Entwicklungsschritt planen.

In der Praxis heißt das: In der Schule nach den 7G unterscheidet sich in diesen beiden Sätzen nur der Name des Kindes:

Murat ist 11 und hat in der dritten und vierten Stunde bei Herrn Müller im Klassenraum der 6a Mathe. Das Thema ist Körper. Gerade bearbeitet die Klasse die Textaufgabe, die Herr Müller an die Tafel geschrieben hat. Am Ende der Doppelstunde schreiben die Schüler:innen einen Test über Würfelnetze.

Sophie ist 11 und hat in der dritten und vierten Stunde bei Herrn Müller im Klassenraum der 6a Mathe. Das Thema ist Körper. Gerade bearbeitet die Klasse die Textaufgabe, die Herr Müller an die Tafel geschrieben hat. Am Ende der Doppelstunde schreiben die Schüler:innen einen Test über Würfelnetze.

Mit Blick auf die “Schule für jeden“ liest sich das dagegen zum Beispiel so:

Murat und Sophie sind 11. In diesen Wochen ist das Thema Körper; dazu gibt es eine große Projekteinheit mit verschiedenen weitläufigen Aufgaben zu den unterschiedlichen Körpern. Das Material gibt es im Klassenraum, im Matheraum, auf dem Schulserver – und draußen, außerhalb der Schule.  Heute beschäftigt sich Murat mit Würfeln. Er hat sich dazu mit seinem Material, das er aus dem Matheraum geholt hat, in eine ruhige Ecke in der Schulbibliothek zurückgezogen.  Er zerlegt einen Würfel auf möglichst viele unterschiedliche Arten und dokumentiert, wie sich die Würfelnetze unterscheiden. Seine Ergebnisse stellt er danach seinen Mitschüler:innen im Abschlusskreis vor. Morgen wird er die Rückmeldungen, die er von ihnen und von seinem Lehrer Herrn Müller bekommen hat, genauer angucken und seine Dokumentation entsprechend bearbeiten. Wenn er mit der Einheit Würfelnetze fertig ist, bespricht er sie mit Herrn Müller und Frau Schmid, seinem Klassenleitungsteam. Er schätzt ein, was ihm schon gut gelungen ist, und gemeinsam planen sie, was als nächstes dran ist.

Sophie arbeitet heute nicht in der Schule. Sie ist mit ihrer Freundin Hamide (9) unterwegs zum Sammeln: sie sammeln Körper und Formen, die sie auf dem Marktplatz finden. Was sie gefunden haben, dokumentieren sie auf verschiedene Weise digital und analog, durch Fotografieren, Zeichnen, Beschreiben. Anschließend recherchieren die Eigenschaften der Körper und erstellen daraus eine Präsentation, die sie online im schuleigenen, datenschutzkonformen Video-Chat der Klasse vorstellen. Wie Murat bekommen sie von ihren Mitschüler:innen und dem Klassenleitungsteam Rückmeldung zu ihrer Arbeit.

 In einem zweiten Teil geht es um Körper, die sie in ihrem Zimmer zuhause finden. Beide haben ein eigenes Smartphone und einen eigenen Laptop; Schule und Schulträger sorgen dafür, dass alle Kinder Smartphone und Laptop, die passende, datenschutzkonforme Software und einen schnellen Internetanschluss haben.

Neben den regelmäßigen Videokonferenzen mit den Klassen und dem Klassenrat „in echt“ gehört es auch zum Alltag, dass alle Kinder der 6a einmal am Tag mit einem Erwachsenen aus der Schule sprechen und sich austauschen, egal, wo und woran sie gerade arbeiten. Einmal in der Woche besprechen Kinder und Erwachsene die Lernfortschritte und weiteren Schritte – meistens in der Schule, manchmal auch per Video, wie es gerade passt.

 Es bleibt zu hoffen, dass die Schulöffnungen, die mancherorts stattfinden, jetzt nicht den 7G Vorschub leisten, sondern lieber solchen und ähnlichen Szenarien – für ein neues Lernen!

[1] http://andreas-helmke.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/11/Paedagogik_2_13_Helmke_Individualisierung.pdf. Grammatikalisch korrekter: „Alle etwa gleichaltrigen Schüler*innen haben zum selben Zeitpunkt bei derselben Lehrkraft im selben Raum mit den gleichen Mitteln dasselbe Ziel gleich gut zu erreichen“.