Schule21 im Gespräch mit Staatssekretär a.D. Mark Rackles

Schulische Inklusion ist derzeit kaum noch ein Thema in der bildungspolitischen Debatte. Das hat mit Corona zu tun, aber auch mit der historisch gewachsenen Bildungslandschaft in Deutschland. Im Rahmen der Konzeptionsphase des Kooperationsprojektes inklusiv-systemische Schulentwicklung (KisS) hatten die Deutsche Schulakademie und die Bertelsmann Stiftung einen Bericht zu Fortbildungsangeboten zum Themenschwerpunkt „Inklusion“ in Auftrag gegeben, dessen Kurzfassung im Rahmen eines Interviews auf dem Deutschen Schulportal veröffentlicht wurde. Die Arbeit hat den ehemaligen Staatssekretär Berlins, Mark Rackles, zu einem Policy Paper zur schulischen Inklusion inspiriert, zu dem wir mit ihm sprechen möchten:

Herr Rackles, Sie identifizieren in Ihrem Papier „Abwehrmechanismen“ gegen schulische Inklusion auf drei Ebenen – rhetorisch, normativ-politisch und organisatorisch. Was verbirgt sich dahinter?

Für mich gibt es da zwei getrennte Prozesse: Das eine ist, die Inklusion aufzuhalten. Das andere ist, das Sonderschulsystem zu schützen und faktisch in einigen Ländern auch wieder auszubauen. Das ist eine gegenläufige Strategie, die ich für schädlich halte. Diese verschiedenen Strategien, die hauptsächlich unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung Anwendung finden, lassen sich in die drei genannten Ebenen einteilen:

Die erste ist die sprachlich-rhetorische Ebene. Die sollte man nicht unterschätzen: Wenn jemand wiederholt eine Sonderschule „Förderschule“ oder gar „Förderzentrum“ nennt, obwohl sie nach wie vor eine Schule mit eigenen Schüler:innen ist, deren Lehrkräfte auch diagnostizieren – also genau dasselbe wie vorher – dann bleibt das irgendwann hängen. Und es klingt natürlich deutlich sympathischer und offener und fördernder als „Sonderschule“.

Die zweite ist die normativ-politische Ebene. Da geht es zum Beispiel um so etwas wie Elternwahlrecht oder Kindeswohl. Hier ist auffällig, dass gerade die exklusiv orientierten Bundesländer wie z.B. Baden-Württemberg, die jahrelang den Eltern gar keine Rechte gegeben haben, jetzt das Elternwahlrecht für sich entdecken, um die Sonderschulen zu erhalten. Damit verknüpft wird das Argument, man müsse beide Strukturen vorhalten, damit Eltern sich entscheiden können. Dabei ist ein Elternwahlrecht in der UN-BRK nicht vorgesehen und von der UN meines Wissens nicht akzeptiert.

Und die dritte ist die organisatorisch-regulative Ebene. Diese adressiert das härteste Instrument, das Staat und Bildungsverwaltung haben: regulative Setzungen und deren Ausgestaltung. Inklusiv arbeitende Schulen brauchen ambulant arbeitende Unterstützungssysteme, die nicht auf Dauer eigene Schüler:innen aufnehmen. Es gibt einen Kriterienkatalog, den man da prüfen kann, und dann sind Förderzentren sinnvoll. Wenn aber, wie gesagt, etwas Förderzentrum genannt wird, was nur eine ehemalige Sonderschule ist, die nichts anderes macht als etwas Diagnostik in der Regelschule, dann ist das kontraproduktiv. Und das passiert eben in Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg.

Ein anderes Beispiel ist die Mindestgröße: Sonderschulen sollen geschlossen werden, wenn sie eine bestimmte Größe nicht mehr erreichen. Aber mehrere Länder, unter anderem auch NRW, haben nicht die Schulen fusioniert oder geschlossen, sondern einfach die Mindestgröße aufgehoben oder angepasst. Das ist natürlich eine verheerende Strategie, weil auf diese Weise Strukturen aufrechterhalten werden, die in sich schon nicht mehr lebensfähig sind und dann gar nicht mehr Bildung, sondern nur noch Betreuung leisten können.

Zwei dieser Strategien finde ich tatsächlich sehr kritisch, wenn man Inklusion boykottieren möchte, und beide betreffen die Regelschulen: Das eine ist die Entlastungsfunktion der Sonderschulen gegenüber dem Regelschulsystem zu konstruieren. Also historisch: Das Lernen ist für Kinder mit und Kinder ohne Behinderung getrennt voneinander besser, weil sie sich nicht gegenseitig behindern. Das ist ein extrem gefährliches Argument. Es ist sehr breit aufgestellt. Und es konstruiert einen Zusammenhang zwischen Sonderschulen und Regelschulen.

Und da setzt dann gleich die zweite Strategie ein, die ich für besonders gefährlich halte: die Kritik an der inklusiven Praxis. Da wird dann von der Exklusion in der Inklusion gesprochen. Das finde ich immer einen sehr harten Vorwurf. Der ist nicht so völlig aus der Luft gegriffen, weil es natürlich die Situation gibt, dass man Kinder in der Inklusion temporär stabilisiert oder aus dem Regelunterricht rauszieht. Aber wenn solche Formulierungen von den sonderpädagogischen Verbänden kommen und mit übertriebenen Ressourcenforderungen verknüpft werden, dann ist es auch eine Form der Verhinderung. Und wenn dann die Sonderschule als bessere Alternative dargestellt wird, dann sagen sich Eltern natürlich: „Also, bevor ich mein Kind in eine schlecht ausgestattete, überforderte Situation gebe, geht es lieber in die Förderschule“ – noch dazu, wenn der Diagnostiker zufällig von der Sonderschule kommt und diese als den besseren Lernort für das Kind empfiehlt. Auf diese Weisen verknüpfen sich Verhinderungsstrategien und Inklusion kommt nicht voran.

Was schlagen Sie vor, wie schulische Inklusion wieder zum (bildungspolitischen) Thema werden kann?

Ich glaube, einerseits ist der Bedarf an inklusiver Bildung ja da. Der wird nicht weggehen, auch wenn er mal keine Konjunktur hat. Es ist eine reale Herausforderung, auch an die Haltung im Bildungssystem. Die wird bleiben. Ich finde, nach 2009 bis 2015 ist durchaus viel gelaufen. Aber dann ist eben so eine massive Entschleunigung bis hin zur Abbremsung erfolgt, aus der man wieder rauskommen muss. Die Inklusionsländer müssen offensiver als bisher bundesweit auftreten, auch in der KMK, und sie müssen zivilgesellschaftliche Netzwerke stärker fördern als bisher. Die Inklusionsländer sollten da selbstbewusster rangehen. Statt dass sie sich darauf beschränken, vor allem ihre eigenen Leuchttürme zu pflegen – oder sich kleinmachen, weil sie in den Vergleichsarbeiten eventuell nicht mehr so gut abschneiden – sollten sie da ganz bewusst sagen: „Es ist ein Menschenrecht, das wir hier umsetzen. Das geht, und es ist auch vielfach nachgewiesen, dass Kinder ohne Förderbedarf in einem inklusiven Setting genauso gut lernen und keinen Schaden nehmen.“

Außerdem sollte man die Gelegenheit nutzen und die Inklusionsdebatte andocken an andere Debatten – wie die Digitalisierungsdebatte. Hybrides Lernen ist für manche Kinder vielleicht sogar gut, wenn sie in einem ruhigen Setting zuhause sind und oder auch mit mehr Zeit für sich etwas arbeiten können. Dieses Andocken passiert punktuell in der Wissenschaft gerade. Das muss man stärken. Ein weiterer Punkt ist: Wir haben in Deutschland kein Recht auf Bildung. Das würde ich mir für die nächste Legislaturperiode wünschen, dass wir dieses Recht auf Bildung – oder gar inklusive Bildung – doch noch im Grundgesetz verankern. Das wäre meines Erachtens ein kluger Weg, um eine bundesweite Debatte auch über inklusive Bildung zu bekommen.

Sie sprechen in Ihrem Policy Paper acht Empfehlungen aus – welche zwei bis drei halten Sie für die vielversprechendsten, um in Sachen schulische Inklusion wieder zügig voranzukommen?

Wenn man ehrlich ist, dann kann in Deutschland die Inklusion nur gelingen, wenn man die drei Länder Bayern, Baden-Württemberg und NRW überzeugt. Aus diesen drei Ländern kommen über 50 Prozent der Förderkinder. Und wenn ich dann feststelle, dass viele Kinder mit Migrationshintergrund unter dem Label eines sonderpädagogischen Förderbedarfs in Richtung Sonderschulen abgeschoben werden, dann ist das natürlich falsch. Das sind, auch international gesehen, einfach Kinder, die vernünftige Sprachförderung benötigen oder die einfach etwas langsamer lernen. Das gilt in großen Teilen für die Kinder mit Förderbedarf Sprache und Lernen. Klar gibt es zum Teil ganz schwierige Kinder, gerade im Bereich emotional-soziale Förderung. Aber auch die benötigen, wie man auch international sieht, meist keine separaten Schulen. Und es gibt eine größere Anzahl Kinder, die eine ganz normale Schulkarriere machen könnten und aus Unwissen der Eltern und auf Drängen von Sonderpädagog:innen in die Sonderschule kommen. Ich habe da gerade von einem Kind gehört, einem türkischen Kind, das in Bayern gleich in die Sonderschule eingeschult werden sollte. Der Anteil der Direkteinschulungen ist in den südlichen Bundesländern ja sehr hoch. Und dieses Kind macht jetzt gerade in Berlin sein Abitur. Da sind jetzt gerade diese bevölkerungsreichsten Länder gefragt, ihre Praktiken wirklich zu hinterfragen und zu revidieren.

Dazu kommt, dass in diesen Ländern die Kirchen über die privaten Sonderschulen sehr stark verankert sind. Sie machen nicht die Mehrheit aus, sind aber ein relevanter Anteil der Sonderschulen. Da frage ich mich: „Warum machen Kirchen einerseits Inklusion – auch sehr gut – und betreiben andererseits mehrere hundert Sonderschulen?“ Da würde ich empfehlen, den Kirchen mit einer 10-Jahres-Perspektive Förderungen anzubieten, mit denen sie ihre Sonderschulen planvoll in bestehende oder neue inklusive Regelschulen in kirchlicher Trägerschaft überführen können. Damit würden sich die Kirchen glaubwürdig in die inklusive Bildung einbringen.

Ein weiterer Punkt ist, Inklusion tatsächlich in den einzelnen Ländern zu forcieren und die Debatten zu organisieren. Dafür müssen sich Akteure zusammenfinden und es muss etwas entwickelt werden, was ich „Planungsrahmen“ nenne: Was ist denn Inklusion in Deutschland? Was sind unsere Standards? Wann wollen wir was erreichen?

Die KMK als solche ist für eine solche Debatte durch ihr Einstimmigkeitsprinzip leider blockiert. Da mache ich mir Hoffnungen, dass die neue „Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK (kurz SWK) hilfreich sein könnte, etwa durch Impulse. Diese Impulse müssten aber unterlegt und ergänzt werden durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten aus Wissenschaft, aus Stiftungen, aus den Verbänden, selbst aus den Ländern. Da sind dann wiederum die Länder gefragt, die Inklusion betreiben und sich als Vorreiter verstehen, die die Angst nehmen. Wenn man so ein Land wie Schleswig-Holstein als Norm nimmt – Flächenland, CDU-regiert – und sagt: „Das ist die Richtung, in die wir als Bundesrepublik gehen wollen, mit regionalen und landesweiten Unterstützungssystemen“, dann hätte man bundesweit schon über 100 000 Kinder in allgemeinen Schulen statt auf der Förderschule.

Deshalb halte ich insgesamt das Konzept der Förderzentren für den entscheidenden Punkt. Wo Unterstützungssysteme keine verkappten Sonderschulen sind, sondern wirklich als Netz für alle inklusiven Schulen dienen, kann man einen Übergang organisieren von Sonderschulen, dann kann die Kompetenz aus den Sonderschulen zusammen wirken mit den Kompetenzen und Bedürfnissen der Regelschulen, und zusammen wirkt das hin auf tatsächlich inklusive Schulen. Aber zu Unterstützungssystemen, die glaubwürdig sind, ist es in den meisten Bundesländern noch ein recht weiter Weg.

Herzlichen Dank für dieses Gespräch.