Die digitale Lebensrealität junger Menschen 

237 Minuten benötigt die schnellste ICE-Verbindung von Köln nach Berlin. Genau diese Fahrtzeit verbringen junge Menschen im Alter von 12 bis 19 Jahren jeden Tag im Internet. Zwar ist die tägliche Internetnutzung seit der flächendeckenden Verwendung von Smartphones generell sehr stark gestiegen, jedoch nutzen Jugendliche das Internet 85 Minuten länger als die Gesamtbevölkerung. Wenn junge Menschen sich jeden Tag knapp vier Stunden im Internet aufhalten (Rabe 2024), findet automatisch eine Verschiebung der analogen Lebensrealität in den digitalen Raum statt.  

Dieser ist für sie ein Ort der Information und sozialen Interaktion. So gehört die Nutzung sozialer Medien für 82 Prozent der jungen Menschen zum Alltag (Rohleder 2023). Die Bandbreite der Nutzung erstreckt sich von Messenger-Diensten bis hin zu Gaming-Plattformen. Dabei wählen sie die Plattformen nach ihren individuellen Bedürfnissen aus. 

Interessant ist jedoch die zunehmende Relevanz von TikTok in den letzten Jahren – mittlerweile nutzt knapp jede:r Vierte in Deutschland die App, insbesondere Jugendliche. Bei ihnen ist TikTok derzeit die drittbeliebteste Plattform (59 Prozent) mit steigender Tendenz.  

TikTok als digitale Informationsquelle über das analoge Weltgeschehen 

Bei TikTok handelt es sich um eine Kurzvideo-App eines chinesischen Unternehmens, auf der die Nutzer:innen Videos bis zu einer Länge von drei Minuten hochladen können. Dabei sind die Inhalte der Videos so vielfältig wie deren User und reichen von Tanz- oder Gesangseinlagen, Rezeptideen, Comedy-Szenen, Modetipps bis hin zu Finanzratschlägen. Aber auch politische Inhalte sind präsent und gewinnen zunehmend an Relevanz. Denn Jugendliche und junge Erwachsene sehen einen besonderen Vorteil in sozialen Netzwerken: 78 Prozent berichten, dass es für sie der schnellste Zugang zum aktuellen Weltgeschehen sei und ihnen die Begegnung mit anderen Meinungen zu bestimmten Themen ermöglicht, die sie sonst nicht wahrgenommen hätten (77 Prozent) (Rohleder 2023).  

Dieses Verhalten machen sich TikTok, aber auch Populist:innen, zu Nutzen. Denn wie andere soziale Netzwerke nutzt TikTok Algorithmen, die unter anderem auf dem bisherigen Engagement der Nutzer:innen – Liken, Reagieren oder Teilen von Inhalten – basieren. TikTok geht jedoch noch einen Schritt weiter und testet darüber hinaus immer wieder eigene „Empfehlungsvorhersagen“. So werden den Nutzer:innen vermehrt Videos von Accounts angezeigt, welchen sie noch nicht folgen. Dies hilft dabei, Videos rasant zu verbreiten und bietet jedem die Möglichkeit, über Nacht viral zu gehen. Dies trägt auch zu der vergleichsweise hohen Engagement-Rate auf dieser Plattform bei. 

Der Aufstieg der AfD auf TikTok 

Die AfD hat diese Spiellogik früh verstanden, sie für sich genutzt und dadurch an großer Popularität gewonnen. Mit 110 aktiven Parteiaccounts und zahlreichen Drittaccounts, die als Multiplikatoren wirken, ist sie mit Abstand die erfolgreichste politische Partei auf TikTok. Nutzer:innen begegnen ihren häufig populistischen Inhalten – meist Ausschnitte aus politischen Reden oder populistische Erklärvideos – immer wieder. Durch die stetige Wiederholung dieser Narrative und Desinformationen erhöht die AfD die gefühlte Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen, unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt. Dieser Effekt wird “Illusory Truth Effect” genannt.  

Bereits 2020 stimmten ein Drittel der 12- bis 25-Jährigen populistischen Aussagen zu und knapp jeder Zehnte zeigte nationalpopulistische Tendenzen – die weiteren Entwicklungen angesichts der Popularität der AfD auf TikTok bleiben abzuwarten. 

Wer sich machtlos fühlt, glaubt eher an rechtspopulistische Narrative 

In vielen rechtspopulistischen Äußerungen der AfD steht „das Volk“ einer „herrschenden politischen Elite“ gegenüber, wie z. B. in dem TikTok-Video „Sie haben Angst vor uns“ (280 Tsd. Aufrufe). Dort berichtet ein AfD-Mitglied und Abgeordneter des europäischen Parlaments, wie „das Volk“ durch einen Graben vom Reichstagsgebäude ferngehalten werden solle. Dass es sich dabei um geplante Umbaumaßnahmen handelt, bleibt in dem Video unerwähnt. Darüber hinaus wird gewählten Politiker:innen Angst vor der Bevölkerung unterstellt und ihre Legitimität angezweifelt. Sein Aufruf: „Wählt diejenigen, die sich wirklich für euch, das Volk, einsetzen“ und meint damit die AfD. 

Mit diesem Narrativ von einer unterdrückten Mehrheit identifiziert sich ein Teil junger Menschen. Sie haben den Eindruck und häufig auch die Erfahrung gemacht, dass ihr Leben von anderen bestimmt wird und sie kein Mitspracherecht haben. Auch die viel ausgerufene Parole der Fridays for Future-Bewegung „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“ greift das Ohnmachtsgefühl junger Menschen gegenüber den älteren Generationen auf (Calmbach et al. 2020).  

Der grundlegende Eindruck der Einflusslosigkeit der jungen Generation auf politische Entscheidungen wird auch in Jugendstudien deutlich: Die Mehrheit junger Menschen ist unzufrieden damit, wie ihre Anliegen von Politiker:innen vertreten werden (Vodafone Stiftung 2023). Mit der Unzufriedenheit wächst auch die Demokratieskepsis in dieser Generation: Waren 2019 noch fast 80 Prozent der 12- bis 15-Jährigen mit der Demokratie in Deutschland eher bis sehr zufrieden (Albert et al. 2019), sind 2023 nur noch die Hälfte der jungen Menschen damit einverstanden, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert (Döberle et al. 2023). Eine besorgniserregende Entwicklung! 

TikTok-Verbot oder analoge Demokratiebildung? 

TikTok steht bereits wegen seinem Daten- und Jugendschutz, Spionage-Vorwürfen sowie der Zensur von Inhalten stark in der Kritik. Aber TikTok trägt auch zu der Zunahme an antidemokratischen Einstellungen, z. B. durch die schnelle Verbreitung von Desinformation auf der Plattform, bei. Dies ist besonders kritisch im Hinblick auf die Auswahl und Nutzung von Informationsquellen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Denn dort hat eine Verschiebung stattgefunden: 55 Prozent berichten, dass sie ohne soziale Netzwerke oft nicht wissen würden, was in der Welt geschieht. Dieses Nutzungsverhalten verdeutlicht, dass die Relevanz und der Einfluss von sozialen Medien gegenüber klassischen Medien bei politischen Themen stark zugenommen haben. 

Als Gegenreaktion fordern die demokratischen Parteien und Teile der Gesellschaft immer lauter unter anderem eine stärkere Regulierung oder sogar ein Verbot von TikTok. Aktuell gibt es in dieser Diskussion jedoch keinen gesellschaftlichen und politischen Konsens und so liegt zunächst der Fokus auf der Frage: Wie können Jugendliche und junge Erwachsene auf der Plattform besser vor Populismus geschützt werden bzw. den kritischen Umgang mit dort bereitgestellten Informationen erlernen? Für politisch Verantwortliche und gesellschaftliche Akteure bedeutet die derzeitige Lage, dass Social Media auch in Bezug auf analoge Demokratiebildung mehr mitgedacht werden muss. 

Mitwirkung in Schule für ein besseres Demokratieverständnis 

Laut der Datenlage sind besonders diejenigen für populistische Narrative anfällig, die selbst wenig Gestaltungsspielraum in ihrem Leben wahrnehmen oder tatsächlich haben. Aufklärung über die Mechanismen von TikTok oder die Argumentationsstrategien von (Rechts-)Populist:innen können somit nur ein notwendiger erster Schritt sein, um junge Menschen über die Risiken der Politisierung durch TikTok zu sensibilisieren. Der Einbezug von sozialen Medien in den Politikunterricht stellt eine Möglichkeit dar, um in Schule darauf zu reagieren. Hier zeigt beispielsweise der Instagram-Kanal „politik.informiert“ der Politik AG des Luhe-Gymnasiums in Winsen, wie Medienbildung und die Vermittlung komplexer politischer Themen ineinandergreifen.  

Damit junge Menschen die Schulen resilienter gegenüber (rechts-)populistischen Narrativen verlassen, ist jedoch gelebte Demokratie in der Schule essenziell. Ein Umdenken in Bezug auf die Mitwirkungsmöglichkeiten von Schüler:innen in ihrem Schulalltag würde einen nachhaltigen Einfluss auf deren demokratische Bildung nehmen. Denn wer bislang keine echte und konsequente Mitwirkung in allen sie betreffenden Dingen in der Schule erlebt hat, kann sich diese auch nicht vorstellen oder gar einfordern. Wenn Schüler:innen nach den Mitgestaltungsmöglichkeiten in ihren Schulen gefragt werden, nennen sie in der Regel immer noch nur die Schülervertretungen (Calmbach et al. 2019). Insofern gilt es, mehr Verantwortung für sie betreffende Entscheidungen auf Schüler:innen zu übertragen, Aushandlungsprozesse zu initiieren und zu begleiten sowie das Erlebte mit dem Weltgeschehen in Verbindung zu setzen – damit langfristig weder TikTok noch kommende Plattformen Schaden am Demokratieverständnis junger Menschen verursachen können. 

 


Quellenverzeichnis:  

Albert, M.; Hurrelmann, K.; Quenzel, G. (2019): Jugend 2019 – Eine Generation meldet sich zu Wort. Zusammenfassung online unter: https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study/_jcr_content/root/main/containersection-0/simple/simple/call_to_action/links/item0.stream/1642665739154/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf  

Calmbach, M.; Flaig, B.; Edwards, J.; Möller-Slawinski, H.; Borchard, I.; Schleer, C. (2020): Wie ticken Jugendliche? – Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Online unter: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/SINUS-Jugendstudie_ba.pdf  

Döberle, C.; Engels, N.; Heinrich, R.; Loew, N.; Schläger, C.; Simon, A.; Vitt, A.-K. (2023): Krisenerwachen – Wie blicken junge Wähler:innen auf Politik, Parteien und Gesellschaft? Online unter: https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/20355.pdf  

Rabe, L. (2024): Tägliche Dauer der Internetnutzung durch Jugendliche bis 2023. Online unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/168069/umfrage/taegliche-internetnutzung-durch-jugendliche/  

Rohleder, Bernhard (2023): Wie die Deutschen Social Media nutzen. Online unter: https://www.bitkom.org/sites/main/files/2023-02/BitkomChartsSocialMedia2023_0.pdf  

Vodafon Stiftung (2023): Jugend 3.0 – Wünsche, Erwartungen und Sorgen einer Generation. Online unter: https://www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2023/10/Jugend_3.0_Vodafone_Stiftung.pdf 

 

Material-Tipps:  

Mai Think X – Populimus – eine unterhaltsame Show über populistische Strategien,
Unionslabor – ein Online-Spiel für den Unterricht zur EU-Wahl 

 


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